Am Ende des ersten Teils wurde festgestellt, dass die Art und Weise, in der in der Verweisung [1] für G1/24 auf EPG-Entscheidungen Bezug genommen wird, darauf schließen lässt, dass die Beschwerdekammern dem EPG möglicherweise mehr Aufmerksamkeit schenken als den nationalen Gerichten. Dies trotz der Absicht der Beschwerdekammern, in ihren Beziehungen zu den nationalen Gerichten und dem EPG unparteiisch zu sein.
8. G1/24 – Zitierung von Entscheidungen des EPG in der Vorlage
Dass in der Vorlage auf den Nanostring Bezug genommen wird, sollte nicht überraschen. Das EPG hat gegenüber dem EPA die Stellung eines nationalen Gerichts. Die Rechtsprechung der EPÜ-Vertragsstaaten wird manchmal in den Verfahren der Beschwerdekammern herangezogen. Nanostring ist für die in der Vorlage angesprochene Rechtsfrage relevant. Die Art und Weise, in der die Rechtsprechung des EPG in der Vorlage angeführt wird, scheint jedoch gegenüber Bezugnahmen auf nationale Rechtsprechung bevorzugt zu sein:
8.1. Die zweite Entscheidung des EPG war später als die mündliche Verhandlung der Vorlage
Die Vorlage stützt sich auf ein Rechtszitat, das ungewöhnlicherweise zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht vorlag. Die Vorlage bezieht sich auf „VusionGroup v Hanshow“ (VusionGroup), eine Entscheidung des Berufungsgerichts des EPG vom 13. Mai 2024. In dieser Entscheidung wurde Nanostring angewendet. VusionGroup liegt mehr als einen Monat nach der mündlichen Verhandlung vom 10. April 2024 der verweisenden Beschwerdekammer zurück, auf denen die Vorlage beruht.. Es ist eine Tatsache, dass Nanostring in VusionGroup nach der mündlichen Verhandlung angewendet wurde. Normalerweise sind zitierte Entscheidungen nicht später als das Datum der mündlichen Verhandlung datiert. Die Verfahrensbeteiligten vor dem EPA, sei es der Patentinhaber, der Einsprechende oder die Beschwerdekammer, wird in der Regel Gelegenheit gegeben, sich mit einer neu zitierten Entscheidung zu befassen, um dazu Stellung nehmen zu können.
8.2 Die Vorlage erfolgt aufgrund von Nanostring?
Die verweisende Beschwerdekammer hat die Vorlage vorgenommen, um zu einem gemeinsamen Ansatz für die Auslegung der Ansprüche im Hinblick auf die Patentierbarkeit zu gelangen. Die verweisende Beschwerdekammer räumte in der Vorlage zu G1/24 ein[2], dass die Beschwerdekammern die Abweichung von der Anwendung des Europäischen Patentübereinkommens während der Entwicklung von mindestens einer der ständigen Rechtsprechungslinien zur Anspruchsauslegung (Art 69 EPÜ, wie in T169/20 angewandt[3],) nicht erkannt hatten. Bei der Entwicklung dieser Rechtsprechungslinie wurde G2/88 zur Bestimmung des Schutzbereichs angewandt, ohne G6/88 zu berücksichtigen. Die Entscheidung G2/88[4] wendet Art 69 EPÜ für nach der Erteilung hinzugefügte Gegenstände nach Art 123(3) EPÜ an. Demgegenüber weist G6/88 auf eine Anwendung von Art 69 EPÜ für andere Patentierbarkeitsgründe hin (Art 54, 56, 83, Art 123(2) EPÜ). Obwohl G2/88 und G6/88 am selben Tag, dem 11. Dezember 1989, entschieden wurden, versäumten es die Beschwerdekammern, während der Entwicklung der Rechtsprechung seit 1989 zu bemerken, dass es einen Unterschied in der Anwendung von Art 69 EPÜ in diesen Fällen gibt und dass Art 69 EPÜ eine breite Relevanz bei der kombinierten Anwendung dieser beiden Fälle haben sollte.
In der Vorlage wird anerkannt, dass das Berufungsgericht des EPG die Rechtsprechung der nationalen Gerichte bestätigt. So konnte die verweisende Beschwerdekammer zum Beispiel bei einer Überprüfung von neun nationalen Gerichtsbarkeiten keine Anforderung finden, dass der Fachmann einen Anspruch unklar finden muss, um die Beschreibung und die Figuren bei der Auslegung eines Anspruchs zur Beurteilung der Patentierbarkeit berücksichtigen zu können[5]. Die verweisende Beschwerdekammer zitierte das Urteil Nanostring. Es bestätigt, dass das Recht des EPG im Wesentlichen dasselbe ist wie das der nationalen Gerichte, d.h. es gibt kein solches Erfordernis, wie es in der Rechtssache T169/20 angewandt wurde. Die Entscheidung Nanostring zitiert die G2/88 auch als die einschlägige Rechtsprechung der Beschwerdekammern[6]. Die Entscheidungen G2/88 und G6/88 sind nicht nur früher als die genannten Entscheidungen der ersten Rechtsprechungslinie und der zweiten Rechtsprechungslinie ergangen, vielmehr liegt die G2/88 auch zeitlich vor den zitierten Entscheidungen der nationalen Gerichte. Wenn man bedenkt, dass die beiden Entscheidungen der Großen Beschwerdekammern (G2/88, G6/88) vor 1990 ergangen sind und die Entscheidung G2/88 mit den Entscheidungen der nationalen Gerichte im Einklang steht, so erscheint es vernünftig, dass sich die nationalen Gerichte auf die gleiche Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer gestützt haben.
In der Zusammenfassung der Vorlage formuliert die verweisende Beschwerdekammer dann noch einmal die Bewertung der jüngsten Rechtsprechung des EPG :[7]
“Das Berufungsgericht des EPG hat den ersten Schritt in diese Richtung getan [auf der entwickelten Rechtsprechung der Beschwerdekammern aufzubauen, anstatt neue Standards zu entwickeln oder nur nationales Recht zu betrachten], indem es auf die ursprüngliche Rechtsprechung verwiesen hat, die von der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in den Tagen entwickelt wurde, als die Große Kammer keinen Zweifel daran hatte, dass Artikel 69 EPÜ und sein Protokoll auch bei der Beurteilung der Patentierbarkeit anwendbar sind (siehe 3.2 und 4.3.4 oben).”
8.3. Das jüngste EPG-Zitat steht im Einklang mit der seit langem bestehenden nationalen Rechtsprechung
Wenn das EPG die Rolle eines nationalen Gerichts gegenüber den Beschwerdekammern einnimmt, warum haben die Beschwerdekammern dann nicht in einer früheren Entscheidung die seit langem bestehende Praxis der nationalen Gerichte bei der Anspruchsauslegung anerkannt? Die Verweisung zitiert die nationale Rechtsprechung mehrerer EPÜ-Vertragsstaaten.[8]. Im Vergleich zur ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern[9] zur Anspruchskonstruktion, die aus den Jahren 2022 und 2023 stammen, wurden die Entscheidungen der nationalen Gerichte viel früher getroffen: 2015 in Frankreich, 2010 in Deutschland und 2004 in England und Wales (für das Vereinigte Königreich). Die Entscheidung Nanostring, die mit der Rechtsprechung der verschiedenen EPÜ-Vertragsstaaten in Einklang steht, stammt erst aus diesem Jahr, nämlich aus dem Februar 2024. Nanostring könnte somit als eine Neuformulierung und Anwendung der schon bestehenden ständigen Praxis der nationalen Gerichte gesehen werden. Der einzige zusätzliche Schritt des Berufungsgerichts des EPG war der Verweis auf die Entscheidung G2/88 , um zu zeigen, dass es eine Autorität innerhalb der Rechtsprechung der Beschwerdekammern gibt, die mit den führenden Autoritäten der nationalen Gerichte übereinstimmt.
9. Zusammenfassung und Beobachtungen
9.1. Einige Gerichte sind gleicher als andere
Das Verhältnis zwischen den Entscheidungen der nationalen Gerichte und der Beschwerdekammern ist ein Verhältnis der „überzeugenden Autorität“. Die nationalen Gerichte und die Beschwerdekammern sind als solche nicht an die Entscheidungen des jeweils anderen gebunden, werden aber stark von den Entscheidungen des jeweils anderen beeinflusst. Es wird erwartet, dass das EPG die Rolle jedes anderen nationalen Gerichts übernimmt. Doch um den Einfluss dieser verschiedenen „nationalen“ Rechtssysteme auszugleichen, übernimmt das EPG die Rolle von achtzehn nationalen Gerichten. Das EPG wird wahrscheinlichüberzeugender sein als alle anderen nationalen Gerichte [10]. Die offensichtliche Vorzugsbehandlung von Entscheidungen des EPG gegenüber Entscheidungen nationaler Gerichte durch die Beschwerdekammer ist hierfür möglicherweise ein Anzeichen.
Insbesondere wird verschiedentlich in der Vorlage auf den Nanostring Bezug genommen. Nanostring wird in Anerkennung des Beitrags des Berufungsgerichts des EPG erwähnt und auch in der Empfehlung für die Notwendigkeit der Vorlage wird Nanostring zitiert. Vorschläge der verweisenden Beschwerdekammer für die wahrscheinliche Antwort der zu einer möglichen Verweisung erwähnen ebenfalls Nanostring [11]. Die Art dieser Bezugnahmen auf Nanostring deutet darauf hin, dass die Beschwerdekammern einige Entscheidungen des EPG (insbesondere des Berufungsgerichts des EPG) für überzeugender halten als die Entscheidungen der nationalen Gerichte. Dies deutet darauf hin, dass die Beschwerdekammern möglicherweise eine engere Zusammenarbeit mit dem EPG anstreben würden als bislang mit den nationalen Gerichten. Die Vorlage scheint das erste Zitat aus dem Jahresbericht 2023 der Beschwerdekammern zu bestätigen. [12]
Die Art und Weise, auf die in Nanostring in der Vorlage Bezug genommen wurde, deutet darauf hin, dass das EPG vielleicht mehr als nur ein Zusammenschluss der nationalen Gerichte ist. Die Beschwerdekammern mögen das EPG als „gleicher“ betrachten als jedes andere nationale Gericht. Doch Nanostring ist nur eine Entscheidung. Eine pragmatischere Sichtweise wäre, dass die Mitglieder der verweisenden Beschwerdekammer die derzeitigen Entwicklungen beim EPG aufmerksam verfolgen. Die Bezugnahme auf Nanostring in der Verweisung zeigt möglicherweise, dass die Beschwerdekammern, wie viele andere in der Patentgemeinschaft, die Bedeutung des EPG und seinen Erfolg anerkennen.
9.2. Auswirkungen der Einheitlichkeit
Die bisher ergangenen Entscheidungen des EPG haben die Erwartungen erfüllt, dass das EPG ein Gericht ist, das verlässlich konsistente Entscheidungen trifft. Beispielsweise wurde Nanostring in späteren EPG-Entscheidungen konsequent angewendet[13]. Sollte sich dies fortsetzen, dürfte das EPG die Verlässlichkeit europäischer Patententscheidungen an verschiedenen Europäischen Gerichtsstandorten verbessern. Es wäre eine interaktivere Diskussion zwischen dem EPG, den nationalen Gerichten und der Beschwerdekammern zu erwarten. Nanostring dürfte nur die erste Entscheidung des EPG sein, die eine gegenseitige Bezugnahme zwischen den verschiedenen europäischen Gerichtsbarkeiten (d. h. den nationalen Gerichten, dem EPG und den Beschwerdekammern) fördert. Die neue Rechtsprechung des EPG könnte in der Tat die ständige Rechtsprechung anderer europäischer Patentgerichte erneuern. Es gibt also klare Anzeichen dafür, dass die Gerichtsbarkeit des EPG keine Insel sein wird, sondern eine Brücke, die einen konstruktiven Dialog zwischen dem EPG, den Beschwerdekammern und den nationalen Gerichten ermöglicht.
9.3. Bezugnahme auf EPG-Entscheidungen in EPA-Verfahren?
Die Vorlage zeigt, dass die Beschwerdekammern den Entscheidungen des EPG von Anfang an große Aufmerksamkeit schenken, und zwar mehr als die Beschwerdekammern normalerweise den Entscheidungen der nationalen Gerichte schenken. Wenn die Beschwerdekammern anderen Entscheidungen des EPG große Aufmerksamkeit schenken, können Patentpraktiker die latente Überzeugungskraft von Entscheidungen des EPG durchaus erkennen, wenn eine solche Entscheidung des EPG von den Beschwerdekammern einfach bestätigt wird. Obwohl eine EPG-Entscheidung Teil der Rechtsprechung des EPG und nicht der Zuständigkeit der Beschwerdekammern ist, könnten sich Praktiker auf eine solche bestätigte Entscheidung des EPG nicht nur in Verfahren vor den Beschwerdekammern, sondern auch in Einspruchs- und EPA-Prüfungsverfahren berufen. Möglicherweise ist es nur eine Frage der Zeit, bis bestätigte EPG-Entscheidungen routinemäßig in EPA-Verfahren zitiert werden. Die Einführung des EPG hat möglicherweise einen Wandel in der europäischen Patentpraxis eingeleitet, der bisher unterschätzt wurde und der zu einer Harmonisierung beitragen kann.
9.4. Auf Harmonisierung hinarbeiten
Das EPG hat das Potenzial, eine Harmonisierung zu ermöglichen und zu beschleunigen, und zwar durch gerichtsübergreifende Aktivitäten und durch die Anwendung von Entscheidungen des EPG durch Praktiker sowohl vor dem EPA als auch vor dem EPG. Das EPG könnte nicht nur die Harmonisierung vorantreiben, sondern auch die Gesundheit und Resilienz des europäischen Patentsystems verbessern.
9.5. Eine Entscheidung macht noch keinen Trend
Die Vorlage ist die erste Entscheidung der Beschwerdekammern, die sich auf das Verfahren der Großen Beschwerdekammer bezieht und auf die Rechtsprechung des EPA verweist. Sie ist die erste von vielen. Nur eine Entscheidung ist auch nur ein Datenpunkt. Sie kann keinen Trend darstellen. Auch wenn die Betrachtung der Einzelheiten der Vorlage wertvoll ist, sollten künftige Entscheidungen der Beschwerdekammern, wie die endgültige Entscheidung zu G1/24, beobachtet werden, um zu erfahren, wie die Beschwerdekammern ihren Umgang mit der Rechtsprechung des EPG weiterentwickelt.
[1] Die späteren Referenzen zu der Verweisung in diesem Artikel sind eigentlich Referenzen zur Zwischenentscheidung, d.h. den Gründen für die Verweisung, die in der Zwischenentscheidung angegeben werden.
[2]Gründe 3.2 bis 3.2.3 der Verweisung
[3] Grund 3.2.1 (Absatz 2) und 3.4.2 der Verweisung; sehe auch Absatz 5.1 der Mitteilung der Beschwerdekammer von 5 Dezember 2023. https://register.epo.org/application?documentId=LPLABDMGCAIE749&number=EP14806330&lng=en&npl=false
[4] Und auch im Hinblick auf das Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ.
[5] Gründe 4.3 bis 4.3,3 der Verweisung.
[6] Grunde 4.34, insbesondere der letzte Satz der Verweisung.
[7] Grund 6.1 (in Anbetracht Grund 6) der Verweisung
[8] Grund 4.2 der Verweisung, die sich auf Gründe 1.3.5 des T 367/20 und Gründe4.3, 4.4, 6.2 & 6.3 der Verweisung bezieht.
[9] T1473/19 und T169/20; siehe die Mitteilung des T 0439/22 von 5. Dezember 2023
[10] d.h. nationale Gerichte von: EPÜ-Vertragsstaaten, die keine EU-Mitgliedsstaaten sind; EU-Mitgliedsstaaten, die keine EPG-Vertragsstaaten sind; und EPG-Vertragmitgliedsstaaten, die das EPG später ersetzen soll.
[11] Siehe in der Verweisung: Grund 4.3.4 letzter Absatz, 3.2 letzter Absatz, und Absatz 6 insbesondere Absatz 6.1 der zurückverweist auf Absatz 4.3.4 und 3.2.
[12] Seite 5, Absatz 6; das Vorwort von Carl Josefson, Präsident der Beschwerdekammern; Jahresbericht der Beschwerdekammern 2023.
[13] Oder genau die gleiche Argumentation wird gemacht, wenn Nanostring nicht zitiert wird: VusionGroup v Hanshow; Dyson v SharkNinja UPC_CFI_443/2023; Ortovox Sportartikel v Mammut Sports UPC_CFI_452/2023; Sanofi-Aventis v Amgen Action n°: UPC 14/2023; CUP&CINO v Alpina Coffee UPC_CFI_182/2023 ACT_528738/2023