Die Auslegung einer Rechtsnorm stellt eine übliche juristische Tätigkeit dar. Ohne Auslegung einer Rechtsnorm ist deren Anwendung ausgeschlossen. Patentansprüche bestimmen den Schutzumfang eines Verbietungsrechts und definieren eine mögliche Rechtsverletzung. Ansprüche können daher als Rechtsnormen aufgefasst werden, die vor ihrer Anwendung zwingend auszulegen sind. Eine Auslegung eines Anspruchs erfolgt im Erteilungsverfahren, um den Schutzumfang zu ermitteln, und in einem Verletzungsverfahren zur Feststellung einer Rechtsverletzung.
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Eine umfassende Auslegung eines Anspruchs ist stets erforderlich, auch wenn der Wortlaut eindeutig erscheinen mag. Allein der Hinweis auf die Tatsache, dass eine Anmeldung ihr eigenes Lexikon darstellt und daher Begriffe beliebig definiert sein können, genügt zur Rechtfertigung des grundsätzlichen Erfordernisses einer mehrstufigen Auslegung.
Die Auslegung hat die Aufgabe, für einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber und eine ausreichende Rechtssicherheit für Dritte zu sorgen.[1] Hierbei sind insbesondere Unklarheiten zu beseitigen und die Bedeutung der einzelnen Begriffe zu klären.[2] Außerdem ist der Umfang des Gegenstands des Anspruchs festzustellen, wobei die vom Anspruch umfassten Ausführungsformen zu bestimmen sind.
Der Anspruchswortlaut ist zunächst maßgeblich für die Bestimmung des Schutzumfangs.[3] Allerdings ist der Gegenstand des Anspruchs zwingend vor dem Hintergrund der Beschreibung und der Zeichnungen zu bewerten. Die Beschreibung und die Zeichnungen müssen bei der Auslegung berücksichtigt werden.[4] Die Ansprüche dürfen daher nicht unabhängig von der Beschreibung und den Zeichnungen betrachtet werden. Vielmehr sind die Ansprüche, die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Auslegung als eine zusammengehörende Einheit aufzufassen.
Die Beschreibung und die Zeichnungen einer Anmeldung müssen bei der Auslegung berücksichtigt werden. Allerdings darf die Rolle der Ansprüche nicht nur darin gesehen werden, bei der Bestimmung des Schutzumfangs eine grobe Richtung vorzugeben. Die Ansprüche bestimmen den Schutzumfang.[5] Die Beschreibung und die Zeichnungen können keinen Schutzbereich selbstständig schaffen oder beliebig formen. Daraus folgt, dass eine hierarchische Struktur gesehen werden kann, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung eine dienende und die Ansprüche eine bestimmende Funktion einnehmen. Ansprüche, Beschreibung und Zeichnungen sind bei der Auslegung keine gleichberechtigten Quellen. Ergeben sich Widersprüche zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung und den Zeichnungen, so ist den Ansprüchen der Vorrang zu gewähren.
Der Hauptanspruch und die Nebenansprüche sind unabhängig voneinander auszulegen. Es ist durchaus möglich, dass demselben Begriff in einem Hauptanspruch und einem Nebenanspruch unterschiedliche Bedeutungen beizumessen sind.
1. Varianten der Auslegung von Patentansprüchen
In den Rechtswissenschaften gibt es vier Varianten der Auslegung von Rechtsnormen: die wortlautgemäße, die systematische, die teleologische und die historische Auslegung. Die wortlautgemäße Auslegung bestimmt zunächst den Wortsinn der einzelnen Begriffe einer Rechtsnorm. Die Summe der Sinngehalte der Begriffe ergibt die Bedeutung der Rechtsnorm. Die systematische Auslegung betrachtet den Zusammenhang, in dem sich die Rechtsnorm befindet und bestimmt den Sinngehalt der Rechtsnorm aus dem Kontext. Bei der systematischen Auslegung werden daher auch die Rechtsnormen „in der Nachbarschaft“ der auszulegenden Rechtsnorm berücksichtigt. Bei der teleologischen Auslegung wird der Zweck der Rechtsnorm ermittelt und der Auslegung zugrunde gelegt. Die historische Auslegung berücksichtigt die Entstehungsgeschichte der Rechtsnorm.
Ein Prüfer im amtlichen Erteilungsverfahren oder ein Richter eines Verletzungsgerichts wird nicht anhand einer vermuteten Entstehungsgeschichte eine Auslegung eines Anspruchs wagen. Es liegen hierzu keinerlei Unterlagen vor, die eine verlässliche Auslegung ermöglichen könnten. Die Methode der historischen Auslegung kann daher auf Ansprüche nicht angewendet werden. Die teleologische Auslegung, die den Sinn und Zweck ergründet, kann in der Weise verstanden werden, dass nach der technischen Aufgabe der Anmeldung gesucht wird. Eine teleologische Auslegung eines Anspruchs bestimmt daher, welche Aufgabe der Anspruch erfüllen soll.
Es gibt daher grundsätzlich drei Arten der Auslegung eines Anspruchs, nämlich die wortsinngemäße, die systematische und die teleologische Auslegung. Alle drei Varianten der Auslegung sind nacheinander anzuwenden, um den Gegenstand des auszulegenden Anspruchs bestimmen zu können. Ein Gegenstand, der dem vom Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ beschriebenen Spannungsfeld zwischen angemessenem Schutzumfang für den Anmelder und erforderlicher Rechtssicherheit der Öffentlichkeit gerecht wird.[6]
2. Durchschnittsfachmann
Zur Bewertung eines Anspruchs ist die Perspektive eines „auf dem Gebiet tätigen Durchschnittsfachmanns“ einzunehmen. Dieser Durchschnittsfachmann ist eine fiktive Person.[7] Der Durchschnittsfachmann zeichnet sich durch eine theoretische Ausbildung als Ingenieur und eine langjährige praktische Erfahrung in dem einschlägigen technischen Gebiet aus.
3. Wortsinngemäße Auslegung
Die wortsinngemäße bzw. wortlautgemäße Auslegung ist die Auslegungsmethode, die zunächst anzuwenden ist. Die wortsinngemäße Auslegung lehnt sich möglichst nahe an den Wortsinn der einzelnen Begriffe des Anspruchs an. Der Anspruch ist daher genau so zu verstehen, wie er geschrieben ist. Die Summe der Wortsinne der Begriffe ergibt den Sinngehalt des Anspruchs.
4. Systematische Auslegung
In einem zweiten Schritt wird der betreffende Anspruch vor dem Hintergrund der Beschreibung und der Zeichnungen ausgelegt. Es wird der Anspruch im Zusammenhang mit der Beschreibung und den Zeichnungen bewertet. Es ist zu prüfen, ob den einzelnen Worten eines Anspruchs aus der Offenbarung der Beschreibung und der Zeichnungen ein anderer als der allgemein übliche Wortsinn beizumessen ist. Enthält der Anspruch unklare Begriffe oder ergeben sich bei einer wortsinngemäßen Auslegung scheinbare Widersprüche innerhalb eines Anspruchs, kann die systematische Auslegung einer Klärung dienen.
Bei der systematischen Auslegung können Unteransprüche einen Beitrag zur Bestimmung des Gegenstands eines übergeordneten unabhängigen Anspruchs leisten. Allerdings darf eine Auslegung eines unabhängigen Anspruchs durch den Gegenstand eines Unteranspruchs nicht zu einer Beschränkung des Schutzumfangs des unabhängigen Anspruchs führen.
5. Teleologische Auslegung
Die teleologische Auslegung kann alternativ als aufgabenorientierte Auslegung bezeichnet werden, denn es wird zur Auslegung die Aufgabe betrachtet, die vom Gegenstand des Anspruchs erfüllt werden soll.[8] Bei dieser Auslegungsmethode gehören nur diejenigen Ausführungsformen dem Schutzbereich an, die zur Lösung der technischen Aufgabe geeignet sind.
Eine teleologische Auslegung kann zu einer zu engen Auslegung des Schutzumfangs eines Anspruchs führen. Die teleologische Auslegung sollte daher vornehmlich als affirmative und nicht als eigenständige Auslegungsmethode verwendet werden.
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[1] Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ in der Fassung der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000, https://www.epo.org/law-practice/legal-texts/html/epc/2020/d/ma2a.html, abgerufen am 1.9.2022.
[2] BGH, Urteil vom 12. März 2002 – X ZR 135/01, GRUR 2002, 519 – Schneidmesser II.
[3] §14 Satz 1 Patentgesetz bzw. Artikel 69 Absatz 1 Satz 1 EPÜ: „Der Schutzbereich des (europäischen) Patents und der (europäischen) Patentanmeldung wird durch die Patentansprüche bestimmt.“
[4] §14 Satz 2 Patentgesetz bzw. Artikel 69 Absatz 1 Satz 2 EPÜ: „Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.“
[5] §14 Satz 1 Patentgesetz.
[6] Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ in der Fassung der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000, https://www.epo.org/law-practice/legal-texts/html/epc/2020/d/ma2a.html, abgerufen am 1.9.2022.
[7] BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 – X ZR 14/16, GRUR 2018, 390 – Wärmeenergieverwaltung; BGH, Urteil vom 12. März 2002 – X ZR 43/01, GRUR 2002, 511 – Kunststoffrohrteil.
[8] BGH, Urteil vom 4.2.2010 – Xa ZR 36/08, GRUR 2010, 602 – Gelenkanordnung.