In der Entscheidung T670/20 der Beschwerdekammer ging es um die Frage, ob Patienten in einer klinischen Studie der Geheimhaltung unterliegen. Das Patent bezog sich auf eine Zusammensetzung einer Tablette, die Patienten in einer klinischen Studie verabreicht worden war, wobei die Studie durchgeführt wurde, bevor die Patentanmeldung eingereicht worden war. Es stellte sich die Frage, ob die Patienten als Mitglieder der Öffentlichkeit angesehen werden konnten und ob ihre Teilnahme an der klinischen Studie daher eine offenkundige Vorbenutzung der Zusammensetzung der Tablette darstellt.
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Zum Hintergrund des Falls
Das zugrundeliegende Patent (EP 2140867) bezieht sich auf eine Tablettenform des Medikaments Edoxaban (Lixiana, auch bekannt als DU-176b) gegen Blutgerinnsel. Gegen das Patent wurde Einspruch eingelegt. Begründet wurde der Einspruch u.a. mit mangelnder Neuheit im Hinblick auf eine offenkundige Vorbenutzung, welche in einer Verteilung der Tabletten an Patienten in klinischen Studien (NCT00107900, NCT00398216) bestanden haben soll.
Um die Kriterien einer offenkundigen Vorbenutzung zu erfüllen, muss nicht nachgewiesen werden, dass eine Offenbarung tatsächlich stattgefunden hat. Vielmehr lautet ein Grundsatz, dass lediglich eine potenzielle Offenbarung gegenüber der Öffentlichkeit vorliegen muss. Das klassische Beispiel hierfür ist die ungelesene Doktorarbeit im Bibliotheksregal.
Die Einsprechende trug vor, dass der Fachmann unter Einsatz allgemeinen Wissens in der Lage gewesen wäre, die Inhaltsstoffe der in den klinischen Studien verwendeten Tabletten zu ermitteln. Die Einsprechende führte weiter aus, dass die Tablette und damit ihre Inhaltsstoffe im Verlauf der klinischen Studie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Patienten die Tabletten mit nach Hause nehmen konnten und aus ethischen Gründen nicht als der Geheimhaltung unterliegend angesehen werden könnten. Daher hätte die Möglichkeit bestanden, dass die Öffentlichkeit die Zusammensetzung der Tabletten hätte analysieren und bestimmen können.
Geheimhaltung in klinischen Studien
Die entscheidende Frage vor der Beschwerdekammer war, ob die Patienten der Geheimhaltung unterlagen oder nicht. Die Einsprechende argumentierte, dass es unethisch wäre, Patienten daran zu hindern, die Studie mit ihrem Arzt und ihrer Familie zu besprechen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die Zusammenfassungen der klinischen Studie selbst den Hinweis enthielten, dass man als Patient „mit seinem Arzt und seinen Familienangehörigen oder Freunden über die Entscheidung zur Teilnahme an einer Studie sprechen“ sollte.
Die Beschwerdekammer hingegen sah einen Unterschied zwischen der Geheimhaltung im Zusammenhang mit der Studie selbst und den in der Studie verwendeten Tabletten. So kann ein Patient über die Studie gesprochen haben, ohne Informationen über die Tablette selbst zu offenbaren.
Die Einsprechende hatte ferner argumentiert, dass die Patienten zwar verpflichtet gewesen seien, unbenutzte Tabletten zurückzugeben, aber nicht alle unbenutzten Tabletten tatsächlich zurückgegeben wurden. Für die Einsprechende war dies ein Beleg dafür, dass das Unternehmen die Kontrolle über das Produkt verloren hatte. Ferner spreche die Tatsache, dass es keine rechtlichen Sanktionen für die Nichtrückgabe der Tabletten gebe, dafür, dass diese Verpflichtung nicht als juristisch gleichwertig mit einer Geheimhaltungsverpflichtung angesehen werden könne.
Die Beschwerdekammer ließ sich von diesem Argument jedoch nicht überzeugen. Stattdessen stellte die Beschwerdekammer fest, dass die Patienten nicht mit Mitgliedern der Öffentlichkeit gleichgesetzt werden können, die von der Geheimhaltung befreit sind:
„Das Einverständnis des Patienten, die ihm zur Verfügung gestellten Medikamente vorschriftsmäßig einzunehmen bzw. die nicht benutzten Medikamente zurückzugeben, stellt für den Patienten eine Verpflichtung dar, ungeachtet jedweder Sanktion bei Nichteinhaltung, und führt dazu, dass Patienten nicht als Mitglied der Öffentlichkeit in Bezug auf die ihnen zur Verfügung gestellten Medikamente angesehen werden können. Die Möglichkeit, dass die teilnehmenden Patienten die Anweisungen zur Einnahme und Rückgabe der Tabletten nicht einhalten, beeinträchtigt das Wesen dieser Vereinbarung nicht.“
Die Zusammensetzung der Tablette wurde daher im Hinblick auf die Zusammenfassungen der klinischen Studien als neu angesehen. Die Beschwerdekammer wies auch auf den unterschiedlichen Sachverhalt im vorliegenden Fall und in der Sache T007/07 hin. In der Sache T007/07 wurde festgestellt, dass die Patentinhaberin im Verlauf der klinischen Studie die Kontrolle über das Arzneimittel verloren hatte, da die Tabletten an nicht zur Geheimhaltung verpflichtete Personen ausgegeben worden waren.
Abschließende Überlegungen
Bei der Durchführung einer klinischen Studie kann es schwierig sein, die versehentliche Offenlegung vertraulicher Informationen zu verhindern. Zusammenfassungen klinischer Studien, Investorenberichte und Unternehmensankündigungen müssen allesamt geprüft werden, um sicherzustellen, dass sensible Informationen nicht versehentlich offengelegt werden, bevor eine Patentanmeldung eingereicht wurde. Auch die Offenlegungsanforderungen der Aufsichtsbehörden nehmen zu, vor allem in Europa. All dies setzt die Unternehmen unter erheblichen Druck, Patentanmeldungen für klinische Erfindungen (z.B. Dosierung und Zusammensetzung) einzureichen, bevor klinische Daten gewonnen werden können. In diesem Zusammenhang bietet die Entscheidung der Beschwerdekammer zumindest eine gewisse Bestätigung, dass Patienten in einer klinischen Studie als der Geheimhaltung unterliegend angesehen werden können. Laut T670/20 stellt die direkte Verteilung eines Medikaments mit einer bestimmten Zusammensetzung an Patienten im Rahmen einer klinischen Studie daher nicht notwendigerweise eine öffentliche Bekanntgabe dieser Zusammensetzung dar.
Aus dieser Entscheidung geht jedoch nicht eindeutig hervor, ob andere Informationen über das Arzneimittel als die Zusammensetzung, also z.B. die Dosis eines Medikaments, in ähnlicher Weise als geheim angesehen worden wären. Falls den Patienten die Dosis des Arzneimittels mitgeteilt worden wäre, die sie dann möglicherweise mit ihrem Arzt und ihrer Familie besprochen haben (und die möglicherweise auch beobachtet werden kann), würde dies dann als öffentliche Bekanntgabe gelten? Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Entscheidung sehr stark von den Tatsachen des Falles abhing. So konnten die Patienten – im Gegensatz zum Fall T007/07 – insbesondere aufgrund der Art und Weise, wie die Studie selbst durchgeführt wurde, als der Geheimhaltung unterliegend angesehen werden. Das Studiendesign und die Kommunikation mit den Patienten ist daher ein weiterer Aspekt, der zu berücksichtigen ist, wenn sichergestellt werden soll, dass Einzelheiten einer klinischen Erfindung nicht vorzeitig und versehentlich offenbart werden.
[Aus dem Englischen von Tobias Becker]