Der § 139 Absatz 1 Patentgesetz stellt die Anspruchsgrundlage für den Unterlassungsanspruchs eines Patentinhabers dar. Durch das Zweite Gesetz zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechts (2. PatMoG) vom 10. August 2021 erhielt der § 139 Absatz 1 insbesondere den Satz 3, der die Durchsetzbarkeit des Unterlassungsanspruchs einschränkt.
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Industrie 4.0 und das Internet der Dinge
Das Konzept der „Industrie 4.0“ und das Internet der Dinge führen zu einer Vernetzung technischer Einheiten, wie Fahrzeuge, Maschinen und sonstige technische Installationen. Durch die Vernetzung wird eine zentrale Steuerung ermöglicht. Nachteilig bei hoher Vernetzung ist die Anfälligkeit bei Störungen, denn der Ausfall eines einzelnen technischen Objekts kann bereits schädliche Auswirkungen auf das gesamte System verursachen. Fällt ein wichtiges technisches Element aus, kann sogar das komplette System lahmgelegt werden.[1]
Die zunehmende Komplexität technischer Produkte und deren umfangreiches Zusammenwirken mit einer Vielzahl anderer technischer Einheiten führt zu einer Erschwernis bei der Erstellung verlässlicher Freedom-to-operate-Gutachten. Das gilt besonders für technische Gebiete mit einer hohen Anzahl an Schutzrechten.[2] Das Risiko, dass kleine, aber unabdingbare Bestandteile eines komplexen technischen Systems übersehen werden oder die dazugehörenden Patente falsch bewertet werden, liegt daher auf der Hand. Die Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs auf einen derartigen Bestandteil kann zu erheblichen Konsequenzen für das betreffende technische System führen, weswegen die Durchsetzung als unangemessen angesehen werden könnte.
Bisherige Rechtsprechung und Literatur
Die Rechtsprechung hat diese Problematik der Überkompensation bzw. Unverhältnismäßigkeit bereits seit einiger Zeit erkannt.[3] In der Entscheidung „Wärmetauscher“ des BGH wurden Grenzen der Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs beschrieben.[4] Die Literatur betrachtete den quasi-automatischen Unterlassungsanspruch des § 139 Absatz 1 Satz 1 Patentgesetz ebenfalls kritisch.[5] Insbesondere Sperrpatente und das Durchsetzen eines Unterlassungsanspruchs für kleinere Bauteile eines technisch komplexen Verletzungsgegenstands wurden kritisch gesehen.[6]
Der neue Satz 3 des § 139 Absatz 1 Patentgesetz
Der Gesetzgeber hat auf die Rechtsprechung reagiert und mit dem Zweiten Gesetz zur Vereinfachung und Modernisierung des Patentrechts (2. PatMoG) die Sätze 3 bis 5 dem § 139 Absatz 1 Patentgesetz hinzugefügt:
„Der Anspruch ist ausgeschlossen, soweit die Inanspruchnahme aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls und der Gebote von Treu und Glauben für den Verletzer oder Dritte zu einer unverhältnismäßigen, durch das Ausschließlichkeitsrecht nicht gerechtfertigten Härte führen würde. In diesem Fall ist dem Verletzten ein angemessener Ausgleich in Geld zu gewähren. Der Schadensersatzanspruch nach Absatz 2 bleibt hiervon unberührt.“
§139 (1) S. 3-5 PatG
Nach Satz 3 ist der Unterlassungsanspruch daher nicht durchsetzbar, falls das Durchsetzen des Unterlassungsanspruchs:
- unverhältnismäßig und
- zu einer nicht gerechtfertigten Härte führen würde.
In diesem Fall kommt nach Satz 4 nur eine finanzielle Kompensation in Frage.
Die Hürden des § 139 Absatz 1 Satz 3 Patentgesetz sind hoch (Unverhältnismäßigkeit und ungerechtfertigte Härte). Eine Einschlägigkeit des Satzes 3 kommt daher wahrscheinlich nur in Betracht, falls besondere Umstände hinzutreten. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn ein Patentverwerter mit der Geltendmachung seiner Ansprüche gewartet hat, bis ein Patentverletzer umfangreich in die Patentverletzung investiert hat.[7] Die Ansprüche eines Patentinhabers in Form eines nicht-produzierenden Unternehmens werden eher unter den Satz 3 fallen können, insbesondere wenn der Patentverletzer ein produzierendes Unternehmen ist, dem ein hoher Schaden durch die Patentdurchsetzung droht. Eine eingehende Prüfung des Einzelfalls wird stets erforderlich sein, ehe die Einschlägigkeit des § 139 Absatz 1 Satz 3 bestätigt werden kann.
§ 139 Absatz 1 Satz 3 Patentgesetz als Rettungsanker
Die Funktion des § 139 Absatz 1 Satz 3 Patentgesetz kann als die eines Sicherungselements angesehen werden, um einen großen volkswirtschaftlichen Schaden aufgrund der Durchsetzung eines einzelnen Patents zu verhindern. Ein typischer Fall könnte die drohende Stilllegung der kompletten Produktion eines Automobilherstellers oder das Lahmlegen eines ganzen Mobilfunknetzes wegen einer Patentdurchsetzung sein.
Verhältnis des § 139 Absatz 1 Satz 3 zur Zwangslizenz des § 24 Absatz 1 Patentgesetz
Das Verhältnis des § 139 Absatz 1 Satz 3 zum § 24 Absatz 1 kann bislang als unklar angesehen werden. Die Rechtsvorschriften könnten als unabhängig nebeneinanderstehend aufgefasst werden. Alternativ könnte von einer Hierarchie ausgegangen werden, wobei das geforderte „öffentliche Interesse“ des § 24 Absatz 1 Nr. 2 der „Verhältnismäßigkeit“ und der „ungerechtfertigten Härte“ des § 139 Absatz 1 Satz 3 Patentgesetz entsprechen würde. In diesem Fall wäre der § 24 Absatz 1 Patentgesetz lex specialis des lex generalis § 139 Absatz 1 Satz 3 Patentgesetz, denn der § 24 Absatz 1 Nr. 1 Patentgesetz fordert zusätzlich, dass „der Lizenzsucher sich innerhalb eines angemessenen Zeitraumes erfolglos bemüht hat, vom Patentinhaber die Zustimmung zu erhalten, die Erfindung zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen zu benutzen“. Zumindest kann die Entscheidung „Sofosbuvir“ in diesem Sinne verstanden werden.[8] Es kann angenommen werden, dass sich die Rechtsprechung und die Literatur noch einige Male mit dem Verhältnis des § 139 Absatz 1 Satz 3 Patentgesetz zur Zwangslizenz nach § 24 Absatz 1 Patentgesetz beschäftigen werden.
[1] Osterrieth, Technischer Fortschritt – eine Herausforderung für das Patentrecht? GRUR 2018, 985.
[2] Osterrieth: Technischer Fortschritt – eine Herausforderung für das Patentrecht? GRUR 2018, 985.
[3] Osterrieth: Technischer Fortschritt – eine Herausforderung für das Patentrecht? GRUR 2018, 985, 987.
[4] BGH, Urteil vom 10. Mai 2016, X ZR 114/13, GRUR 2016, 1031 – Wärmetauscher.
[5] Busse/Keukenschrijver, 8. Aufl. 2016, § 139 PatG Rn. 92; Benkard/Grabinski/Zülch,
§ 139 PatG Rn. 136 a; Nieder, Die Patentverletzung, 55; Bodewig, GRUR 2005, 632, 635.
[6] Stierle, Der quasi-automatische Unterlassungsanspruch im deutschen Patentrecht, GRUR 2019, 873.
[7] Wagner, Die Aufopferung des patentrechtlichen Unterlassungsanspruchs, GRUR 2022, 294, 295.
[8] LG Düsseldorf: Subsidiarität des Unverhältnismäßigkeitseinwands gegenüber Zwangslizenzklage – Sofosbuvir, GRUR 2022, 1665.