EPÜ Prioschädliche Prioanmeldung?

Gerd

*** KT-HERO ***
Hi,

F‑VI, 1.4.1 sagt:

"Als Priorität muss der Anmeldetag der "ersten Anmeldung", d. h. der Anmeldung beansprucht werden, in der der Gegenstand der europäischen Anmeldung erstmals ganz oder teilweise offenbart wurde."

So oder so ähnlich gilt das ja auch in anderen Jurisdiktionen.

Bei einer Kette von Anmeldungen innerhalb des Prioritätsjahres muss dann in der finalen Anmeldung eben die Priorität aller vorherigen Anmeldungen beansprucht werden, die hoffentlich alle nicht länger als ein Jahr her sind. Je nachdem, wie die Ansprüche gestaltet sind, ergeben sich dann für bestimmte Kombinationen von Merkmalen verschiedene Prioritätszeitpunkte.

Nun kommt es ja vor, dass eine Priorität aus bestimmten Gründen nicht wirksam beansprucht werden kann, z.B. weil der Gegenstand nicht ausreichend nacharbeitbar offenbart ist, oder weil nicht alle Merkmale des späteren Hauptanspruchs (ggf. in der beanspruchten Kombination) offenbart waren.

Bei letzterem sehe ich weniger ein Problem, da eben der Tag der ersten Anmeldung gilt, in der alle Merkmale (entsprechend kombiniert) offenbart sind.

Bei ersterem könnte ich mir schon ein Problempotenzial vorstellen, da es ja oben "ganz oder teilweise offenbart" heißt.

Wäre (z.B. in solch einem Fall, oder aber auch aus einem anderen Grund) eine Situation denkbar (außer der Überschreitung der Jahresfrist), bei der die Priorität einer Anmeldung nicht wirksam beansprucht werden kann, diese aber trotzdem als "erste Anmeldung" zählt, und somit auch nicht die Priorität einer zweiten oder Dritten Anmeldung innerhalb der Jahresfrist beanspruchbar ist?

Gruß
Gerd
 

Rex

*** KT-HERO ***
Ich könnte mir folgende Fälle vostellen:

Erste Anmeldung ist die deutsche Anmeldung A. Nach der Anmeldung wird Produkt A auf den Markt gebracht und ist SdT.

Fall 1) Einen Monat später wird eine deutsche Anmeldung B eingereicht, die eine technische Verbesserung der Anmeldung A betrifft.
Einen weiteren Monat später wird eine internationale Anmeldung C eingereicht, die die Priorität von A und B wirksam in Anspruch nimmt. C ist neu und erfinderisch und wird erteilt.

Fall 2) Es wird die deutsche Anmeldung B eingereicht, jedoch im Gegensatz zu Fall 1) die Priorität der Anmeldung A in Anspruch genommen.
Einen weiteren Monat später wird die internationale Anmeldung C eingereicht, die die Priorität von A und B in Anspruch nimmt.
Da Anmeldung A schon Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts von B gewesen sein, kann sie nicht mehr wirksam in Anspruch genommen werden. A ist SdT und B sei gegenüber A nicht erfinderisch, also wird C nicht erteilt.
 

Rex

*** KT-HERO ***
FALSCH.
Die Priorität einer Anmeldung kann innerhalb der 12 Monate beliebig oft in Anspruch genommen werden.

Das es nach hM keinen Verbrauch des Prioritätsrechts gibt, weiß ich natürlich auch. Aber das ist Case Law und kein kodifiziertes Recht. Dass die Sache nicht so trivial ist, sieht man außerdem an T 998/99.
Zudem habe ich bewußt von einer internationalen Anmeldung gesprochen, weil man das außerhalb unserer Grenzen vielleicht auch anders sehen könnte.
 

Gerd

*** KT-HERO ***
Hi,

T 998/99 sagt aber nur, dass Anmeldung B aus Deinem Beispiel keine Priorität begründen kann, für die gleiche Erfindung, die bereits in Anmeldung A offenbart ist.

"Application (55) on the basis of which priority was validly claimed for European application (57a) could not therefore form the basis for a second priority claim within the priority period in respect of a different application concerning the same invention for the same countries of the Union."

Aus diesem Satz wird klar, dass der etwas unklar formulierte vorstehende Satz

"While the Convention provides for multiple and partial priorities (Article 88(2) and (3) respectively), it does not provide for claiming the same priority several times in respect of applications filed in one and the same country of the Union and relating to the same invention."

nicht so gemeint ist, dass man die Priorität einer Anmeldung, die schon einmal beansprucht wurde, nicht noch ein weiteres Mal beanspruchen kann, sondern dass man nicht mehrmals die gleiche Erfindung anmelden und dann von jeder dieser Anmeldungen einen neuen Prioritätsanspruch ableiten kann.
Ist zwar bisschen tricky, aber wenn es um die mehrmalige Beanspruchung der Priorität der gleichen Anmeldung gehen würde, müsste es "in respect an application" heißen und nicht "in respect of applications".

Gruß
Gerd
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
"Application (55) on the basis of which priority was validly claimed for European application (57a) could not therefore form the basis for a second priority claim within the priority period in respect of a different application concerning the same invention for the same countries of the Union."

Aus diesem Satz wird klar, dass der etwas unklar formulierte vorstehende Satz

"While the Convention provides for multiple and partial priorities (Article 88(2) and (3) respectively), it does not provide for claiming the same priority several times in respect of applications filed in one and the same country of the Union and relating to the same invention."

nicht so gemeint ist, dass man die Priorität einer Anmeldung, die schon einmal beansprucht wurde, nicht noch ein weiteres Mal beanspruchen kann, sondern dass man nicht mehrmals die gleiche Erfindung anmelden und dann von jeder dieser Anmeldungen einen neuen Prioritätsanspruch ableiten kann.
Doch, genau so wie Rex schreibt, war es gemeint. Die Prio von 55 wurde für 57a beansprucht, deshalb konnte man die Prio von 55 nicht nochmal beanspruchen. Das steht in deutlichen Worten in dem von dir zitierten ersten Absatz.

Das Problem: Das sollte nur bei derselben Erfindung in demselben Land gelten. Inwiefern in B dasselbe steht wie in A, ist fraglich, B ist ja die Weiterentwicklung. Bei T998/99 waren die Anmeldungen jeweils vollständig wortgleich. Und C ist auch eine PCT-Anmeldung, also nicht im selben Land eingereicht wie B. Gerade der Verweis auf "außerhalb unserer Grenzen" zieht also nicht.

Viel wichtiger ist aber: T998/99 wurde in T15/01 faktisch aufgehoben und als "Ausnahme" bezeichnet. Das ist EPA-Sprech für "die hatten doch nicht alle Tassen im Schrank". Das EPA wendet T998/99 nicht an. Wenn man in der EQE mit dieser Frage konfrontiert wäre, würde eine T998/99-konforme Antwort als falsch gewertet.

Übrigens: Würde man T998/99 anwenden, dann könnte eine Teilanmeldung nicht dieselbe Prio beanspruchen wie ihr Stamm. Damit wären Teilanmeldungen von prioritätsbeanspruchenden Anmeldungen so gut wie hinfällig. Allein daran merkt man schon, was für eine Schwachsinnsentscheidung das war.
 
Zuletzt bearbeitet:

Kurt

*** KT-HERO ***
Erschöpfung des Prioritätsrechts / Rücknahmefiktion

Hallo zusammen,

ist eigentlich die Frage der angeblichen Erschöpfung des Prioritätsrechts durch einmalige Inanspruchnahme der Priorität inzwischen höchstinstanzlich geklärt – oder stehen hier immer noch die Entscheidungen T998/99 und T15/01 gegeneinander?

Dieser Artikel kommt zu dem Schluss, dass es das Institut der Erschöpfung der Priorität mindestens seit G01/15 nicht mehr gibt. Hier noch etwas zu den damit offenbar ebenfalls abgeschafften "giftigen" Prioritäten/Teilanmeldungen.

Busse (Aufl. 8/2016, möglicherweise überholt) schreibt hierzu:
Nichteintritt [der Rücknahmefiktion]:
Ist die Prioritätsbeanspruchung formell oder materiell unwirksam, tritt die Rücknahmefiktion nicht ein. Jedoch führt die Inanspruchnahme auch dann zum vollständigen Wegfall der früheren Anmeldung, wenn der Inhalt der früheren Anmeldung und der Nachanmeldung nur teilweise übereinstimmt. Um dies zu vermeiden, muss die frühere Anmeldung zunächst geteilt und dann die Priorität entweder der Stamm- oder der Teilanmeldung beansprucht werden.
Busse § 40 PatG Rz. 27

Ein konkretes Anwendungsbeispiel wäre die Zusammenfassung von drei Erfindungen in einer Prioritätsanmeldung, und dann innerhalb des Prioritätsjahres die Einreichung dreier eigenständiger Nachanmeldungs-Familien in diversen Ländern auf jede der drei Erfindungen, wobei jede der drei Nachanmeldungsfamilien den Anmeldetag der Prioritätsanmeldung beansprucht.

Ist so etwas inzwischen ohne weiteres möglich, oder immer noch mit Risiken behaftet?
 

Hans35

*** KT-HERO ***
T998/99 wurde in T15/01 faktisch aufgehoben und als "Ausnahme" bezeichnet. Das ist EPA-Sprech für "die hatten doch nicht alle Tassen im Schrank". Das EPA wendet T998/99 nicht an.
Die Entscheidung T998/99 halte ich inhaltlich für in Ordnung, und das EPA wendet sie nur deshalb scheinbar nicht an, weil der Fall so exotisch ist, das er in der Praxis nicht mehr vorgekommen ist.

Im Einzenen:

Die Prioritätsanmeldung (55) hat den AT 26.3.1987.

Die Patentanmeldung (57a) wurde am 2. 3. 1988 eingereicht und beansprucht die Priorität aus (55).

Die angegriffene Anmeldung wurde am 3.3.1988 eingereicht und beansprucht ebenfalls die Priorität aus (55).

Die Beschreibung der Streitanmeldung ist absolut identisch mit der Beschreibung der Dokumente (55) und (57a). Somit beschreiben das Dokument (57a) und das angefochtene Patent denselben Gegenstand und folglich auch dieselbe Erfindung.

Das bedeutet, dass alles, was in der Streitanmeldung beansprucht werden kann, auch in der (einen Tag älteren) Anmeldung 57a beansprucht werden könnte.

Wesentlich ist dazu auch das Argument: "Der Argumentation der Beschwerdegegnerin, wonach im vorliegenden Fall die Anmeldung (57a) und das Streitpatent aufgrund der unterschiedlichen Ansprüche unterschiedliche Erfindungen beträfen, kann sich die Kammer nicht anschließen."

Für die Streitanmeldung (mit ihrem anderen Anmeldetag) gibt es daher kein Rechtsschutzbedürfnis, sie ist schlicht überflüssig. Wenn er unbedingt (statt nebengeordneter Ansprüche) zwei Anmeldungen braucht, könnte der Anmelder seine ältere Anmeldung (57a) teilen, so dass jeder unverschleiert sehen kann, was Sache ist; auch das ist in der T998/99 erläutert. Nur das Wort Rechtsschutzbedürfnis wird vermieden.

Letztlich handelt es sich um einen (gescheiterten) Versuch, die Bestimmungen für das Teilen einer Anmeldung (57a) zu umgehen. Es scheint mir klar, dass nach der T998/99 niemand mehr noch einmal so etwas versucht hat; die Entscheidung hatte also die gewünschte Wirkung. Ob dabei wirklich sauber mit dem EPÜ argumentiert wurde, ist dabei nach meinem Dafürhalten nicht so bedeutsam.
 
Zuletzt bearbeitet:

Kurt

*** KT-HERO ***
AW: Erschöpfung des Prioritätsrechts / Rücknahmefiktion

Danke für Deine Zusammenfassung und Deutung der T998/99.

Gibt es noch Meinungen zu der skizzierten "Teilung" einer Prioanmeldung durch Beanspruchung verschiedener Gegenstände derselben Prioanmeldung in verschiedenen Nachanmeldungen?

Ein konkretes Anwendungsbeispiel wäre die Zusammenfassung von drei Erfindungen in einer Prioritätsanmeldung, und dann innerhalb des Prioritätsjahres die Einreichung dreier eigenständiger Nachanmeldungs-Familien in diversen Ländern auf jede der drei Erfindungen, wobei jede der drei Nachanmeldungsfamilien den Anmeldetag der Prioritätsanmeldung beansprucht.
 

F1

BRONZE - Mitglied
FALSCH.

Die Priorität einer Anmeldung kann innerhalb der 12 Monate beliebig oft in Anspruch genommen werden.

Sicher? in 40 § steht doch: " es sei denn, daß für die frühere Anmeldung schon eine inländische oder ausländische Priorität in Anspruch genommen worden ist"
 

Fragender

GOLD - Mitglied
Sicher? in 40 § steht doch: " es sei denn, daß für die frühere Anmeldung schon eine inländische oder ausländische Priorität in Anspruch genommen worden ist"

Das bedeutet, dass man nicht die Priorität einer Anmeldung in Anspruch nehmen kann, die schon selbst die Priorität einer früheren Anmeldung in Anspruch nimmt, das soll "Kettenprioritäten" verhindern (genau genommen geht das auch, aber immer nur für die Anmeldungsgegensstände, die in der späteren Anmeldung neu hinzugekommen sind, ist also eher uninteressant, passiert manchmal bei Anmeldungen aus den USA wegen deren "continuation in part").
Aber ausgehend von einer Prioanmeldung könnten beliebig viele Anmeldungen diese eine Priorität in Anspruch nehmen.
 
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