Die Entscheidung T 0447/22 ist ein weiterer Beitrag zur Debatte darüber, inwieweit die Beschreibung eines Patents zur Auslegung der Ansprüche herangezogen werden sollte. In diesem Fall geht es um zwei Fragen, die möglicherweise bald an die Große Beschwerdekammer verwiesen werden: Die Auslegung der Ansprüche einerseits und die Anpassung der Beschreibung andererseits. Die Beschwerdekammer stellte in diesem Fall fest, dass Unstimmigkeiten zwischen der Beschreibung und den Ansprüchen bei der Anspruchsauslegung ignoriert werden können, während sie gleichzeitig die Notwendigkeit einer Anpassung der Beschreibung an die Ansprüche aus Gründen der Klarheit verteidigte.
Auslegung der Ansprüche mit Blick auf die Beschreibung
Die vorliegende Entscheidung betraf einen Einspruch gegen ein Patent für eine Vorrichtung zur Sanierung von Rohrleitungen. Der Patentinhaber hatte auch in Deutschland ein Verletzungsverfahren gegen den Einsprechenden eingeleitet. Die Auslegung des Anspruchs war eine Schlüsselfrage in dem Einspruchsverfahren.
Anspruch 1 in der erteilten Fassung spezifizierte eine „Bearbeitungsvorrichtung zum Bearbeiten des Materials eines Rohrsystems“. Die Vorrichtung wurde so definiert, dass sie a) vorstehende Teile, b) Mittel zum Abtragen eines Materials und c) eine Lenkvorrichtung umfasst. Eine Schlüsselfrage in der Beschwerde war die Bedeutung des Begriffs „Lenkvorrichtung“. Der Patentinhaber argumentierte, dass sich die Lenkvorrichtung nicht unbedingt von den vorstehenden Teilen unterscheiden müsse. Zur Untermauerung dieser Auslegung verwies der Patentinhaber auf Teile der Beschreibung, in denen erwähnt wird, dass die vorstehenden Teile auch zur Lenkung der Vorrichtung dienen können. Nach Ansicht des Patentinhabers verlange ein Anspruch nicht, dass es eine separate „Lenkvorrichtung“ gebe.
Die Beschwerdekammer verwies auf die „umfangreiche Rechtsprechung der Beschwerdekammern“, wonach ein Anspruch mit Hilfe der Beschreibung ausgelegt werden kann. Für die Beschwerdekammer war klar, dass es ein allgemeiner Grundsatz im gesamten EPÜ ist, dass ein Begriff eines Anspruchs nur im Zusammenhang ausgelegt werden kann. Die Ansprüche stehen nicht für sich allein, sondern sind zusammen mit der Beschreibung und den Zeichnungen Teil eines einheitlichen Dokuments, das als Ganzes gelesen werden muss.
Die Beschwerdekammer stellte jedoch auch fest, dass dieser allgemeine Grundsatz, wonach die Ansprüche zusammen mit der Beschreibung auszulegen sind, gewisse Grenzen hat. Die Beschreibung kann nämlich nicht dazu verwendet werden, in den Anspruch Merkmale hineinzulesen, die nur in der Beschreibung vorkommen. Mit anderen Worten kann die Beschreibung nicht als Fundgrube für Definitionen dienen, die dazu verwendet werden können, die Bedeutung einer ansonsten klaren Anspruchssprache zu ändern, da dies keine Auslegung der Ansprüche, sondern eine Neuformulierung derselben wäre. Im Falle einer Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung sind die Elemente der Beschreibung, die sich nicht in den Ansprüchen wiederfinden, bei der Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit in der Regel nicht zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall stellte die Beschwerdekammer fest, dass die Passagen in der Beschreibung, die darauf hinweisen, dass die vorstehenden Teile als Lenkvorrichtung dienen können, nicht zur Änderung der Bedeutung des Anspruchs herangezogen werden können. Der Begriff „Lenkvorrichtung“ im Anspruch erfordere daher ein tatsächliches physisches Bauteil der Bearbeitungsvorrichtung, das geeignet ist, die Richtung der Bearbeitung aktiv zu steuern. Der Wortlaut des Anspruchs erfordere daher vorstehende Teile, die von einer Lenkvorrichtung getrennt und verschieden seien.
Im nationalen Verletzungsverfahren wurden die Ansprüche anders ausgelegt. Das Landgericht Düsseldorf stellte fest, dass es sich bei den in den Ansprüchen genannten vorstehenden Teilen auch um die Lenkvorrichtung handeln könne. Die Beschwerdekammer sah jedoch in der Entscheidung eines nationalen Gerichts keinen ausreichenden Grund, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ändern. Die Beschwerdekammer kam im vorliegenden Fall zu dem Schluss, dass die Auslegung eines Anspruchs im Lichte der Beschreibung an ihre Grenzen stößt. Insbesondere könnte die Aufnahme der Merkmale einer in der Beschreibung beschriebenen Ausführungsform in den Anspruch nur zu einer technisch abweichenden Anspruchsauslegung führen, die der Fachmann nicht annehmen würde und die die Ansprüche tatsächlich ihrer beabsichtigten Funktion berauben würde.
Nach der Auslegung des Hauptantrags durch die Beschwerdekammer war Anspruch 1 des Hauptantrags in Anbetracht des zitierten Stands der Technik nicht mehr neu. Die als Hilfsantrag eingereichten Anspruchsänderungen wurden als neu und erfinderisch angesehen.
Erfordernis der Anpassung der Beschreibung nach der Erteilung
Die Beschwerdekammer hatte auch zu prüfen, ob einem Hilfsantrag des Patentinhabers nicht stattgegeben werden sollte, weil er mit der Beschreibung unvereinbar war. Der Einsprechende machte insbesondere geltend, daß die Beschreibung im Einklang mit der engeren Auslegung der Ansprüche durch die Kammer geändert werden sollte, d. h., dass die Lenkvorrichtung physisch von den im Anspruch angegebenen vorstehenden Teilen getrennt sein sollte.
In Artikel 84 EPÜ heißt es: „Die Patentansprüche müssen den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird. Sie müssen deutlich und knapp gefasst sein und von der Beschreibung gestützt werden“. Mangelnde Klarheit ist jedoch kein Einspruchsgrund, es sei denn, die mangelnde Klarheit ergibt sich aus Änderungen nach der Erteilung. Im vorliegenden Fall befand die Beschwerdekammer, dass ein Einspruch nach Artikel 84 EPÜ zulässig ist, wenn ein Mangel an Klarheit aufgrund einer Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung besteht, die sich aus einer nachträglichen Anspruchsänderung ergibt. Die Beschwerdekammer sah die Rechtsgrundlage für das Erforderdnis der Anpassung der Beschreibung in Artikel 84 EPÜ. Nach Ansicht der Beschwerdekammer gebe es eine umfangreiche Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach Artikel 84 EPÜ die Grundlage dafür ist, die Beschreibung mit den geänderten Ansprüchen in Einklang zu bringen, um Unstimmigkeiten zu vermeiden.
Der Einsprechende argumentierte, dass der Patentinhaber nicht alle Änderungen an der Beschreibung vorgenommen habe, die durch die Anspruchsänderungen des Hilfsantrags erforderlich seien. Die Beschwerdekammer stimmte dem jedoch nicht zu. Nach Ansicht der Beschwerdekammer enthielten die vom Einsprechenden angeführten Passagen der Beschreibung Unstimmigkeiten gegenüber den Ansprüchen, die jedoch bereits bei der Erteilung bestanden. Die Unklarheiten seien also nicht erst durch die Änderungen nach der Erteilung entstanden. Die Beschwerdekammer stellte daher fest, dass der Antrag des Einsprechenden auf Widerruf des Patents wegen fehlender weiterer Änderungen der Beschreibung keine Rechtsgrundlage hat und zurückgewiesen werden muss. Die Beschwerdekammer verwies die Sache daher an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurück, das Patent in der auf Grundlage des Hilfsantrags geänderten Fassung aufrechtzuerhalten.
Abschließende Überlegungen
Die Beschwerdekammer hat in diesem Fall eindeutig festgestellt, dass nach der herrschenden Rechtsprechung der Beschwerdekammern Unstimmigkeiten zwischen der Beschreibung und den Ansprüchen die Ansprüche nach Artikel 84 EPÜ unklar machen. Die vorliegende Entscheidung bietet insoweit jedoch einen gewissen Trost, als dass sie bestätigt, dass eine mangelnde Übereinstimmung zwischen der Beschreibung und den Ansprüchen nicht zum Widerruf eines erteilten Patents führen kann, wenn diese mangelnde Übereinstimmung bereits bei der Erteilung bestand.
Obwohl sie die Notwendigkeit einer Anpassung der Beschreibung an die Ansprüche gemäß Artikel 84 EPÜ verteidigt, untergräbt die Entscheidung jedoch auch die praktische Bedeutung eines solchen Erfordernisses. Die Beschwerdekammer räumte ein, dass die Elemente der Beschreibung, die sich nicht in den Ansprüchen wiederfinden, in der Regel bei der Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit nicht zu berücksichtigen sind. Die Beschwerdekammer räumte zwar ein, dass zwischen den erteilten Ansprüchen und der Beschreibung deutliche Diskrepanzen bestanden, die zu einem Mangel an Klarheit gemäß Artikel 84 EPÜ führten, stellte jedoch fest, dass diese Diskrepanzen keine Auswirkungen auf die Auslegung der Ansprüche oder die daraus folgende Gültigkeit des Patents hatten. Entscheidend sei der Wortlaut der Ansprüche.