Abschaffung der 10-Tage-Regel

Damit das System des geistigen Eigentums vorhersehbar und einheitlich funktioniert, müssen die Vorschriften in Stein gemeißelt sein. Dennoch kann dieser Stein je nach Bedarf umgestaltet werden. Ein Großteil der Grundlagen für die heutigen Patentierungsverfahren wurde zu einer Zeit geschaffen, als die Verfahren noch auf physischen Dokumenten und analogen Methoden beruhten. In unserem heutigen digitalisierten Arbeitsumfeld werden solche Überbleibsel schnell anachronistisch und die Ämter ergreifen nach und nach Maßnahmen zur Beseitigung von Überbleibseln aus der nicht allzu fernen Vergangenheit.

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So wurde die langjährige Praxis des Europäischen Patentamts, wonach Zustellungen am 10. Tag nach dem Datum des Dokuments als dem Empfänger zugestellt gelten, für alle ab dem 1. November 2023 ausgestellten Bescheide abgeschafft.

Die Änderung gilt jedoch nicht rückwirkend, das heißt Dokumente, die vor der Umstellung versandt wurden, sind nicht betroffen.

Was war die 10-Tage-Regel?

Nach dem bisherigen Wortlaut von Regel 126 (2) des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) wurde davon ausgegangen, dass vom EPA versandte Schriftstücke am 10. Tag nach dem Tag, an dem das Schriftstück einem Postdienstleister übergeben wurde, beim Empfänger eingegangen sind. Um sicherzustellen, dass auf den gedruckten Dokumenten der Tag der Übergabe vermerkt ist, wurden die Briefe des EPA selbstverständlich nachdatiert.

Als Beispiel dafür, wie dies für Dokumente funktioniert, die vor dem 1. November 2023 ausgestellt wurden, sei die Frist für die Beantwortung eines Prüfungsbescheids vom 1. Oktober 2023 genannt. Nach dem bisherigen System endet die viermonatige Frist, innerhalb derer der Anmelder auf die Mitteilung antworten muss, am 11. Februar 2024. Da dies jedoch ein Sonntag ist, wird die Frist auf den nächsten Werktag verlängert, nämlich auf den 12. Februar 2024, ein Montag.

Bisherige Berechnung:

1. Oktober 2023 + 10 Tage + vier Monate + Verlängerung auf den nächsten Werktag nach Regel 134 (1) EPÜ = 12. Februar 2024.

Mit der 10-Tage-Regel sollte die unvermeidliche Zeitspanne bei der physischen Zustellung von EPA-Dokumenten berücksichtigt werden. Mit der Norm wurde auch versucht, zusätzliche kurze Verzögerungen zu berücksichtigen, sei es aufgrund von Arbeitskämpfen, schlechtem Wetter, saisonaler Nachfrage oder menschlichem Versagen.

Was hat sich geändert?

Alle Dokumente, die das EPA am oder nach dem 1. November 2023 ausstellt, gelten ab dem Datum des Dokuments als eingegangen.

Die viermonatige Frist für die Beantwortung eines Prüfungsbescheids, der auf den 2. November 2023 datiert ist, endet beispielsweise am 2. März 2024 (einem Samstag) und wird auf den nächsten Arbeitstag, den 4. März 2024 (einen Montag) verlegt.

Neue Berechnung:

2. November 2023 + 4 Monate + Verlängerung auf den nächsten Werktag nach Regel 134 (1) EPÜ = 4. März 2024.

Was ist der Grund dafür?

Fast alle Dokumente, die das Amt herausgibt, werden elektronisch über die Mailbox des EPA versandt. Dieser 2011 eingerichtete Dienst hat sich als zuverlässig und leistungsfähig erwiesen, so dass die Zustellung auf dem herkömmlichen Postweg überflüssig geworden ist. Die Überarbeitung von Regel 126(2) EPÜ spiegelt also lediglich die Verbreitung der sofortigen Kommunikation und deren Unempfindlichkeit gegenüber Verzögerungen durch die Post wider.

Fiktion der Zustellung

In der geänderten Regel 126(2) EPÜ wird bei der Zustellung durch die Post das Wort “Brief” durch “Schriftstück” ersetzt. Dies unterstreicht die Tatsache, dass für die Zustellungsfiktion nur das auf dem Dokument selbst aufgedruckte Datum relevant ist; ein Datum, das von einem Kurierdienst auf den Umschlag gedruckt werden kann, gilt nicht.

Die gleiche Logik gilt für die elektronische Zustellung nach der revidierten Regel 127(2) EPÜ. Das heißt, dass der Versand nicht vor dem Datum des Dokuments erfolgt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Empfänger in der Lage ist, ein Dokument vor diesem Zeitpunkt zu lesen, definiert Regel 127(2) EPÜ weiterhin das angebrachte Datum als angemessene Zustellungsfiktion.

Die Abschaffung der 10-Tage-Regel bietet einen weiteren Anreiz, die Mailbox des EPA als sofortige und zuverlässige Zustellungsmethode zu nutzen. Physische Kopien werden zwar nach wie vor versandt, aber den Patentanmeldern wird empfohlen, ihren elektronischen Posteingang regelmäßig zu überprüfen, um sicherzustellen, dass sie rechtzeitig auf Bescheide reagieren können.

Für den Fall, dass ein Beteiligter einen Bescheid anficht, legen die geänderten Regeln 126(2) und 127(2) EPÜ die Beweislast des EPA fest. Das Amt ist verpflichtet, die Zustellung des Schriftstücks und das entsprechende Datum nachzuweisen.

Kann das EPA die Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen, gilt die Zustellungsfiktion nicht. Folglich liegt dann kein Beginn einer Antwortfrist vor. In diesem Fall werden die Dokumente mit einem geänderten Datum neu zugestellt.

Verspäteter Eingang: Was ist die neue “Sieben-Tage-Regel”?

Die Berechnung der Sieben-Tage-Regel unterscheidet sich von der der 10-Tage-Regel.

Beispielsweise fordert das EPA einen Anmelder in einem Schreiben vom 1. November 2023 auf, bestimmte Mängel in seiner europäischen Patentanmeldung innerhalb von zwei Monaten zu beheben. Das Schreiben wurde vom EPA am 1. November 2023 abgesandt.

Frage: Wann läuft die Antwortfrist ab, wenn der Anmelder nachweisen kann, dass er das Schreiben am 11. November 2023 erhalten hat?

Antwort: Der 11. November 2023 liegt 10 Tage nach der Absendung; daher gilt die Sieben-Tage-Regel der geänderten Regel 126(2) EPÜ. Das Schreiben ist drei Tage zu spät eingegangen (10 – 7 = 3 Tage). Die Frist läuft am 1. Januar 2024 ab (1. November 2023 + zwei Monate (Regel 131(4) EPÜ) ). Wie zuvor handelt es sich um einen Feiertag, aber Regel 134(1) EPÜ findet erst nach Hinzufügung des/der zusätzlichen Tage(s) Anwendung. Folglich müssen 3 Tage hinzugefügt werden (Regel 126 (2) EPÜ), so dass das Fristende der 4. Januar 2024 (ein Donnerstag) ist. Wäre der 4. Januar 2024 ein Ruhetag (ein Samstag oder Sonntag), so würde sich die Frist gemäß Regel 134 (1) EPÜ bis zum ersten verfügbaren Werktag (Montag) verlängern.

Allgemeine Regel: Alle zusätzlichen Tage werden zum letzten Tag der Berechnung addiert, und nur wenn das neue Enddatum ein Ruhetag ist, wird die Frist gemäß Regel 134 (1) EPÜ bis zum nächsten Werktag verlängert.

Während es sich bei der 10-Tage-Regel um eine Eingangsvermutung handelte, ist die Sieben-Tage-Regel ein Ansatz zur Verlängerung von Fristen bei schleppendem Postversand. Für die voraussichtliche Zustellung wird eine Woche angesetzt, wobei jeder weitere Tag der Verspätung zur Beantwortungsfrist hinzugerechnet wird.

Welche Dokumente sind betroffen?

Die geänderte Regel 126(2) EPÜ wirkt sich u. a. auf die Beantwortungsfristen aus:

  • Klagen des Amtes (vier bis sechs Monate)
  • Formelle Mängel (in der Regel zwei Monate)
  • Beschwerden (zwei bis vier Monate)
  • Ersuchen um Weiterbehandlung (zwei Monate)
  • Mitteilungen nach Regel 161-162 EPÜ (sechs Monate)
  • Zahlung von Anspruchsgebühren in Fällen von Nichtgleichheit (zwei Monate)

Welche Mitteilungen sind nicht betroffen?

Die geänderte Regel 126(2) EPÜ hat u. a. keine Auswirkungen auf:

  • Entrichtung von Anmelde- und Recherchengebühren (ein Monat)
  • Beantragung einer Prüfung und Zahlung von Gebühren nach Veröffentlichung des Recherchenberichts im Europäischen Patentblatt (EPB) (sechs Monate)
  • Die Prüfungsfrist nach Regel 70a (2) und Regel 39 (1) EPÜ (sechs Monate)
  • Die Einspruchsfrist, die mit der Veröffentlichung der Erteilungsabsicht im EPB beginnt (neun Monate)
  • Eintrag in den Vertrag über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des europäischen Patentwesens (PCT) (31 Monate)

Diese Änderung der EPA-Vorschriften ist gerade erst in Kraft getreten, so dass es für Patentanmelder und ihre Dienstleister von entscheidender Bedeutung ist, sich der Auswirkungen auf die Fristen bewusst zu sein. Im Zuge der Modernisierungsbemühungen des EPA und darüber hinaus werden wir wahrscheinlich noch viele weitere Verfahrensänderungen erleben. Das System des geistigen Eigentums entwickelt sich langsam, aber unaufhaltsam weiter, so dass es ein fataler Fehler wäre, anzunehmen, dass die Dinge, wie sie jetzt sind, immer so sein werden.

Co-Autor: Dr. Mathieu Buchkremer, Belgischer Patentanwalt

Über Stéphane Speich 1 Artikel
Herr Stéphane Speich ist European Patent Attorney mit Biochemie als naturwissenschaftlichem Hintergrund.