Disclaimer und Priorität

Hans35

*** KT-HERO ***
Disclaimer, also nicht ursprünglich offenbarten Angaben in einem Patentanspruch, sind zulässig, wenn sie – im Vergleich zum ursprünglich offenbarten Sachverhalt – nur eine den Anspruchsgegenstand einschränkende Wirkung haben, ohne der Lehre des Anspruchs eine für den Fachmann verwertbare Information hinzuzufügen.

Bei der Inanspruchnahme einer Priorität tritt dasselbe Phänomen auf: Die Inanspruchnahme der Priorität erfolgt (vorbehaltlich weiterer Voraussetzungen) zu Recht, wenn die Angaben im Patentanspruch, die dem Prioritätsdokument nicht (exakt) entnehmbar sind, den dort offenbarten Sachverhalt nur einschränken, aber keinen vorteilhaften Effekt bewirken.

In beiden Fällen kommt derselbe Offenbarungsbegriff zu Tragen, nur dass einmal die Frage zu beantworten ist, ob der Anspruch gegenüber den ursprünglichen Unterlagen erweitert ist, und im anderen Fall gegenüber dem Prioritätsdokument.

Das bedeutet: Feststellungen (Rechtsprechung, Kommentarliteratur usw.) zu Fragen der Priorität und solche zu Disclaimern können inhaltlich (in beiden Richtungen) übertragen werden.

Beispiel:

Bei der Entscheidung "Teilreflektierende Folie" (BGH GRUR 2016, 50) geht es um die Wirksamkeit der Priorität.
In den Prioritätsunterlagen ist nur bildlich dargestellt, dass der beanspruchte Gegenstand auf einer Theaterbühne steht und entsprechend groß ist. Im Anspruch 1 sind Größenangaben (in Metern) enthalten, die die Prioritätsschrift nicht enthält. Trotzdem hält die Priorität, weil die Meterangaben allenfalls eine Beschränkung der (bildlichen) Angaben im Prioritätsdokument darstellen. (Voraussetzung dürfte allerdings sein, dass damit kein technischer Vorteil verbunden ist, der mit den bloßen Angaben der Prioritätsschrift nicht erzielt werden kann.)

Das kann (auf einen Fall ohne Priorität) übertragen werden:
Wenn die Größe des beanspruchten Gegenstands in den Unterlagen vom Anmeldetag nur bildlich dargestellt ist (natürlich hinlänglich klar und eindeutig), dann stellt es keine unzulässige Erweiterung sondern nur einen zulässigen "Disclaimer" dar, wenn ich in den Anspruch nachträglich eine Angabe in Metern einfüge, die in den ursprünglichen Unterlagen nicht drinsteht. Die Begründung, warum die Offenbarung trägt, ist dieselbe, denn der Offenbarungsbegriff ist derselbe.

Ist diese Schlussfolgerung korrekt?
 
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Fip

*** KT-HERO ***
Du stellst so viele "steile" Thesen auf, dass es schwer fällt, darauf in der gebotenen Kürze zu antworten.


Zunächst halte ich es für problematisch, Fragen, die dem übergeordneten Thema "(Ursprungs-)Offenbarungsvergleich" bzw. "Goldstandard" zuzuordnen sind (also die klassischen Vier: Rechtmäßigkeit der Priobeanspruchung, Zulässigkeit von Änderungen, Teilungserklärung, Neuheit), mit Fragen, die dem Thema "Disclaimer" zuzuordnen sind, zu vermischen. Ein Disclaimer ist ja (in vielen Fällen) gerade eine Konstruktion, mit der eine Sanktionierung eines (eigentlichen, formellen) Verstoßes gegen den Offenbarungsgrundsatz umgangen werden soll, weil ansonsten die sich aus dem Verstoß ergebende Rechtsfolge für den Anmelder zu einem nicht gerechtfertigt erscheinenden Nachteil führen würde, in der Regel dem Verlust der Anmeldung bzw. des Patents.


Außerdem werden die Fragen "Offenbarungsgrundsatz" auf der einen und "Disclaimer" auf der anderen Seite von verschiedenen Entscheidungsgremien unterschiedlich gesehen. Insbesondere gibt es Unterschiede zwischen EPA und BGH Rechtsprechung, wenn vielleicht auch nicht unbedingt in dem Wortlaut der angewendeten Formeln, aber doch zumindest in deren praktischer Anwendung. Daher müsste man schon genau untersuchen, wie der BGH bestimmte Dinge sieht, und wie die EPA Beschwerdekammern.


Zur "Teilreflektierenden Folie" kann ich nur sagen, dass ich noch keinen Kollegen getroffen habe, der die Entscheidung nicht für schlicht falsch oder zumindest für eine dem Anmelder bzw. Inhaber äußerst entgegenkommende Kompromissentscheidung hält, weil sie (eigentlich) eindeutig nicht mit den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang zu bringen ist. Die allgemeine Aussage ist in der Regel: Da hat der Patentinhaber aber Schwein gehabt. Eine EPA Beschwerdekammer hätte diese Entscheidung niemals so getroffen. Bei der Herleitung von themenübergreifenden Grundsätzen vermeintlich allgemeiner Gültigkeit würde ich diese Entscheidung schlicht vergessen.
 
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Hans35

*** KT-HERO ***
Hallo Fip,

deine Erklärung,
... weil ansonsten die sich aus dem Verstoß ergebende Rechtsfolge für den Anmelder zu einem nicht gerechtfertigt erscheinenden Nachteil führen würde, ...
bedeutet wohl genauso viel, wie "Vor Gericht und auf hoher See ...", und das kann man auf jedem Niveau der Rechtsprechung über das sagen, was man (noch) nicht verstanden hat.

Mir geht es darum, hier beim Verständnis vielleicht ein Stückchen weiter zu kommen, was natürlich voraussetzt, dass überhaupt ein "Konzept" oder etwas Ähnliches hinter der Rechtsprechung verborgen ist, das man auch verstehen kann. Das setze ich ganz einfach mal voraus, sonst ist jede Diskussion sowieso überflüssig. Dabei tue ich so, als ob bei BGH, GBK usw. im Hintergrund ein wissenschaftliches Team arbeitet, das auf die Konsistenz der veröffentlichten Entscheidungen achtet, so dass letztlich alles zumindest im Prinzip tatsächlich verstanden werden kann. Wenn sich das alles als frommer Wunsch herausstellt, d.h. wenn (höchstrichterliche) Rechtsprechung letztlich doch unvorhersehbar ist und irgenwie nach Nasenfaktor geht, dann kann ich ja immer noch resignieren.

Im Übrigen: Jeder Beteiligte, der einen Prozess gewinnt, bei dem es auf die höchstrichterliche Beurteilung in einer Frage ankommt, die bisher noch nicht entschieden war, hat "Schwein gehabt"; das ist sicher nichts Besonderes.

Jedenfalls halte ich dieses Forum hier für vielleicht für die einzige Stelle, wo man anonym und dennoch auf hohem Niveau patentrechtliche Fragen diskutieren kann. Die Aussage
..., dass ich noch keinen Kollegen getroffen habe, der die Entscheidung nicht für schlicht falsch ... hält, ...
empfinde ich als Aufforderung zur Resignation, und dafür fühle ich mich (noch) zu jung.

Meine "Methode" ist es gern, falsifizierbare Thesen aufzustellen und und zu beobachten, ob diese Thesen bei Gegenwind bestehen können. (Das mag damit zusammenhängen, dass ich ursprünglich Physiker bin.) IdR geht es dann nicht um letzte Weisheiten ("Die Erde ist eine Kugel."), sondern um die Grenzen der Anwendbarkeit solcher Erkenntnisse ("Für das Berechnen von Satellitenbahnen ist ein Kugelmodell der Erde zu schlecht.").

In diesem Sinne hoffe ich auf eine lebhafte Diskussion.

Aus deinem Beitrag entnehme ich jedenfalls, dass zumindest du die "Teilreflektierende Folie" für so abwegig hältst, dass du mir empfiehlst, aus ihr schlicht garnichts zu schließen.

Viele Grüße
Hans35
 

Pat-Ente

*** KT-HERO ***
Wenn die Größe des beanspruchten Gegenstands in den Unterlagen vom Anmeldetag nur bildlich dargestellt ist (natürlich hinlänglich klar und eindeutig), dann stellt es keine unzulässige Erweiterung sondern nur einen zulässigen "Disclaimer" dar, wenn ich in den Anspruch nachträglich eine Angabe in Metern einfüge, die in den ursprünglichen Unterlagen nicht drinsteht.


Dabei handelt es sich m.E. aber nicht um einen Disclaimer; dieser ist ja eigentlich ein negatives Merkmal, mit dem bestimmte Gegenstände aus dem Anspruch ausgeschlossen werden, während die Größenangaben lediglich eine Konkretisierung des allgemeinen Ursprungsmerkmals darstellen.



Das ist aber letztlich unerheblich, es kommt nur darauf an, ob die vorgenommene Konkretisierung (oder auch der eingeführte Disclaimer) vom Fachmann den ursprünglichen Unterlagen entnommen werden konnte. Der "nicht offenbarte Disclaimer" ist wiederum ein Sonderfall, der unter bestimmten Umständen zulässig ist, auch wenn er eben nicht entnehmbar ist.


Die "Teilreflektierende Folie" betrifft aber gerade keinen nicht offenbarten Disclaimer; der BGH hat ja ausgeführt, warum der FM die Maßangaben der Prioritätsanmeldung entnehmen konnte. Darüber kann man sicherlich geteilter Meinung sein, der "deutsche" Fachmann ist eben etwas schlauer als der des EPA und entnimmt somit einer Offenbarung auch mehr ;-)


Sicherlich hätte der BGH das aber auch so gesehen, wenn es nicht um die Priorität sondern um eine Änderung gegenüber der Anmeldung gegangen wäre. M.E. gilt da der gleiche Beurteilungsmaßstab (aber da lasse ich mich gerne eines Besseren belehren).
 

Fip

*** KT-HERO ***
Du schreibst, meine Erklärung, "... weil ansonsten die sich aus dem Verstoß ergebende Rechtsfolge für den Anmelder zu einem nicht gerechtfertigt erscheinenden Nachteil führen würde, ..." bedeute wohl genauso viel, wie "Vor Gericht und auf hoher See ...", und das könne man auf jedem Niveau der Rechtsprechung über das sagen, was man (noch) nicht verstanden hat.

Hier scheiden sich unsere Geister: Ich nehme nämlich - ganz im Gegenteil zu Deiner Vermutung - für mich in Anspruch, es bereits verstanden zu haben (hierzu bin ich nämlich schon "alt" genug). Ich will gar nicht erst den Versuch unternehmen, "weiterzukommen", weil ich der Überzeugung bin, schon angekommen zu sein. Und was Du Resignation nennst, nenne ich pragmatischen Realismus, der auf der Erkenntnis basiert, dass es nicht für Alles übergeordnete Konzepte gibt, in die jede Entscheidung reinpasst.

Letztlich ist es ganz einfach: Der BGH wollte nicht, dass der Patentinhaber sein Patent verliert, weil er wegen einer nicht gültigen Priorität über sein eigenes, dann als vorveröffentlicht geltendes Gebrauchsmuster stolpert. Und diese Entscheidung ist nicht deshalb so gefallen, weil sie so gut in ein übergeordnetes, höchstrichterliches Rechtsprechungs-Konzept passt, sondern schlicht weil die Menschen im Senat es als überhart empfunden hätten, dem Patentinhaber deswegen sein Patent wegzunehmen.

Um zu verstehen, warum die Entscheidung so getroffen wurde, reicht es, anzuerkennen, dass auch Richter Menschen sind und manchmal schlicht pragmatisch (zum Beispiel orientiert an dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden) entscheiden, wenn es sich denn gerade eben noch juristisch rechtfertigen lässt.

Deine Bemühungen um das Finden eines "übergeordneten Konzepts" in allen Ehren, und ich wünsche Dir viel Glück, aber eine Einzelfallentscheidung als Grundlage zu nehmen, die eher einen Außreißer darstellt, dürfte hierfür nicht geeignet sein.

Abgesehen davon hat Pat-Ente recht: Die Überlegungen, die der diksutierten BGH Entscheidung zugrunde liegen, haben mit Disclaimern nichts zu tun.
 
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Asdevi

*** KT-HERO ***
Das setze ich ganz einfach mal voraus, sonst ist jede Diskussion sowieso überflüssig. Dabei tue ich so, als ob bei BGH, GBK usw. im Hintergrund ein wissenschaftliches Team arbeitet, das auf die Konsistenz der veröffentlichten Entscheidungen achtet, so dass letztlich alles zumindest im Prinzip tatsächlich verstanden werden kann.

Ich halte diese Vorstellungen gelinde gesagt für recht naiv.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
@Pat-Ente
Sicherlich hätte der BGH das aber auch so gesehen, wenn es nicht um die Priorität sondern um eine Änderung gegenüber der Anmeldung gegangen wäre. M.E. gilt da der gleiche Beurteilungsmaßstab ...
Das ist auch mein Ausgangspunkt. Fip's Meinung, dass "Richter auch Menschen sind", würde ich hingegen ablehnen. BGH-Richtern ist es m.E. völlig egal, wer den Prozess im Einzelfall gewinnt (Deshalb hat Justitia ja auch verbundene Augen!); vielmehr geht es dem BGH wohl eher darum, das Recht konsequent und möglichst vorhersehbar weiter zu entwickeln.

Wenn man über "Disclaimer" spricht, braucht man eigentlich erst mal eine halbwegs exakte Definition. Ich sehe drei verschiedene Arten von "Disclaimern", die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben:

1. Ein Merkmal in einem erteilten Anspruch, dass nicht ursprünglich offenbart ist, wobei dieser "Mangel" erst im Einspruch (oder in der Nichtigkeit) entdeckt wird. Stichwort: Unentrinnbare Falle. Für eine Aufrechterhaltung (beim BGH) darf das fragliche Merkmal den Anspruchsgegenstand nur "konkretisieren". Einen solchen Disclaimer meine ich hier nicht.

2. Eine freiwillige Beschränkung des Patentanspruchs im Prüfungsverfahren, indem Teile des ursprünglich beanspruchten Gegenstands vom Schutz ausgenommen werden (Beispiel: "... wobei diese Zubereitungen frei sind von Phosphatidylcholin ..."). Diese Beschränkung kann wohl nur im "Oberbegriff" erfolgen, und meist durch ein negatives Merkmal. (Stichwort: "Wiederherstellung der Neuheit").

3. Um einen Spezialfall von Punkt 2 handelt es sich, wenn in den ursprünglichen Unterlagen eine Bereichsangabe eine Rolle spielt (Beispiel: x zwischen 0 und 100), und dieser Bereich wird später nur durch einen beschränkten Oberbegriff weiterverfolgt (x zwischen 0 und 50).

Die gemeinsame Eigenschaft der Disclaimer ist, dass sie nicht wörtlich den ursprünglichen Unterlagen entnehmbar sind (bei Punkt 3 steht die Zahl 50 nirgends in den ursprünglichen Unterlagen drin). Und außerdem darf ein solches Disclaimer-Merkmal keinen technischen Effekt oder Vorteil bringen, denn der Anmelder würde dies ja sonst dem Fachmann erst nach dem Anmeldetag mit der Änderung der Unterlagen "verraten", und er würde insofern die Erfindung unzulässig erweitern.

Nun zur Priorität:

Wenn die "Einheitlichkeit des Offenbarungsbegriffs" überhaupt einen Sinn hat, dann muss der Vergleich zwischen einem Patentanspruch und einem Dokument bezüglich der Frage, ob der Anspruchsgegenstand in dem Dokument offenbart ist, immer zu demselben Ergebnis führen, egal ob das Dokument die ursprünglichen Unterlagen sind, oder ob das die Prioritätsunterlagen sind.

Wenn daher (zunächst mal im einfachsten Fall nach Punkt 3) ein Disclaimer (x bis 50 statt bis 100) zulässig wäre (d.h. keine unzulässige Erweiterung der Anmeldung darstellt), genau dann sollte dieser Anspruchsgegenstand auch demselben Text als Proritätsdokument entnehmbar sein. Nur redet man da nicht von einem "Disclaimer", auch nicht in der "Teilreflektierende Folie", sondern nur davon, dass die Priorität "hält".

M.E. wird auch bei der "Teilreflektierenden Folie" der Gegenstand der Prioritätsanmeldung durch das Anspruchsmerkmal "x bis 50" nur zum Teil weiterverfolgt. Statt der Angabe "x bis 100" hat man hier in der Prioritätsschrift ein Bild, und für das Halten der Priorität kann es egal sein, ob der Fachmann diesem Bild den Bereich "x bis 50" oder "x bis 70" oder "x bis 100" entnimmt. Nur weniger als 50 darf es halt nicht sein, denn dann beansprucht man mit "x bis 50" mehr, als die Prioritätsschrift offenbart.

Dies jedenfalls scheint mir das Konzept des BGH zu sein. Ob die GBK das wirklich anders sieht, weiß ich nicht, jedenfalls scheint man sich wohl um eine einheitliche Sicht zu bemühen. Mit dem Akzeptieren und Zitieren der "Wiederherstellung der Neuheit durch einen Disclaimer" in Phosphatidylcholin (was ich vorher beim BGH noch nie gelesen habe) dürfte wohl eher der BGH auf die (in diesem Punkt weniger strenge) Sicht der GBK einschwenken.
 
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