G1/24 – Auslegung von Patentanspüchen

Mit der Zwischenentscheidung T439/22 vom 24. Juni 2024 hat die Technische Beschwerdekammer der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts folgende Rechtsfragen vorgelegt:

Frage 1: Sind Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ auf die Auslegung von Patentansprüchen bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ anzuwenden?

Frage 2: Dürfen die Beschreibung und die Figuren bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden, und wenn ja, darf dies generell geschehen oder nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch bei isolierter Betrachtung für unklar oder mehrdeutig hält?

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Die Große Beschwerdekammer hat diese Fragen nunmehr in der Entscheidung G1/24 beantwortet (Deutsche Übersetzung durch Kandidatentreff):

„Frage 1 betrifft die Rechtsgrundlage im Europäischen Patentübereinkommen zur Durchführung einer Auslegung von Patentansprüchen. Die beiden Standpunkte zu dieser Frage sind, dass die Rechtsgrundlage im EPÜ entweder Artikel 69 EPÜ in Verbidnung mit Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ („das Protokoll“) oder Artikel 84 EPÜ ist. Die Frage der Rechtsgrundlage im EPÜ wurde in mehreren Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer behandelt, z.B. in G2/88, G 6/88 (hier wurden Artikel 69 EPÜ und das Protokoll als Rechtsgrundlage angenommen) und G2/12 (in diesem Fall wurde Artikel 84 EPÜ als Rechtsgrundlage genannt). Die Rechtsgrundlage war jedoch in keinem dieser Fälle die entscheidende Frage.

Der Erweiterte Vorstand ist der Ansicht, dass weder Artikel 69 EPÜ in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls, noch Artikel 84 EPÜ als Grundlage für die Anspruchsauslegung bei der Beurteilung der Patentierbarkeit zufriedenstellend ist.

Artikel 69 EPÜ und das Protokoll befassen sich wohl nur mit Verletzungsklagen vor nationalen Gerichten und dem Einheitspatentgericht (EPG). Eine solche Schlussfolgerung kann gezogen werden aus dem Wortlaut von Artikel 69 EPÜ und dem Protokoll, der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmungen und deren Stellung im EPÜ (Artikel 69 EPÜ findet sich in Kapitel III, „Wirkungen des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung“).

Die Verwendung von Artikel 84 EPÜ als alternative Grundlage für die Auslegung der Ansprüche kann ebenfalls kritisiert werden. Artikel 84 EPÜ befasst sich mit dem Inhalt der Patentanmeldung und ist formaler Natur, erwähnt die Erfindung nicht und gibt keine Anleitung zur Auslegung der Ansprüche. Er
enthält lediglich eine Anweisung an den Verfasser, was in den Ansprüchen enthalten sein muss, und eine Anweisung an das Europäische Patentamt, festzustellen, ob die Ansprüche diesen Zweck erfüllen (siehe T
1473/19 Gründe 3.8).

Die Große Beschwerdekammer ist daher der Auffassung, dass es keine klare Rechtsgrundlage im Sinne eines Artikels des EPÜ für die Auslegung von Ansprüchen bei der Beurteilung der Patentierbarkeit gibt. In Anbetracht dessen würde die streng formale Antwort auf die Frage 1 „Nein“ lauten. Der Erweiterte Vorstand wird jedoch weitere Hinweise zu dieser Frage geben.

Die obige Schlussfolgerung bedeutet nicht, dass es notwendig ist, von Grund auf neue Grundsätze der Anspruchsauslegung zu entwickeln. Die Große Beschwerdekammer stellt vielmehr fest, dass nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe die in den Gründen 3.2 des Vorlagebeschlusses beschriebene Rechtsprechung) die Grundsätze, die angewandt werden, nicht davon abhängen, ob Artikel 69 EPÜ oder Artikel 84 EPÜ als Grundlage für die Anspruchsauslegung herangezogen wird. Generell haben die Beschwerdekammern den Wortlaut dieser Artikel in analoger Weise auf die Prüfung der Patentierbarkeit nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ herangezogen. Es gibt also eine bestehende Rechtsprechung aus der sich die geltenden Grundsätze der Anspruchsauslegung ableiten lassen.

Die Vorlageentscheidung enthält eine ausführliche Erörterung der Auslegung von Patentansprüchen durch die Beschwerdekammern bei der Beurteilung der Patentierbarkeit {siehe die in der Vorlageentscheidung erörterte Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Grund 3.3.2(b), (insbesondere T 2684/17 Gründe 2.1.4 und T 1871/09 Grund 3.1), Grund 3.3.3, (insbesondere T 1473/19 Gründe 3.1 bis 3.15 und 3.16 bis 3.16.2), und Grund 3.3.4}. Aus dieser Rechtsprechung lassen sich die folgenden Grundsätze der Anspruchsauslegung ableiten:

  1. Die Ansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung gemäß Artikel 52 bis 57 EPÜ.
  2. Die Beschreibung und etwaige Zeichnungen werden bei der Auslegung der Ansprüche stets herangezogen, und zwar nicht nur im Falle von Unklarheiten oder Zweideutigkeiten.

Punkt 1 kann als Standard in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern angesehen werden, und auch die Vorlageentscheidung lässt nichts anderes vermuten. Was Punkt 2 anbelangt, so hat dieser zu voneinander abweichender Rechtsprechung geführt.

Die Große Beschwerdekammer lehnt eine Rechtsprechung der Kammern ab, die eine Bezugnahme auf die Beschreibungen und Zeichnungen bei der Auslegung eines Anspruchs nicht für erforderlich hält, es sei denn, der Anspruch ist unklar oder mehrdeutig. Dies ist die in Frage 2 aufgeworfene Frage.

Die abweichende Rechtsprechung […], bei der die Beschreibung nur bei Unklarheit oder Mehrdeutigkeit herangezogen wird, widerspricht dem Wortlaut und damit den Grundsätzen des Artikels 69 EPÜ. Sie steht auch im Widerspruch zur Praxis der nationalen Gerichte der EPÜ-Staaten und zur Praxis des EPG (siehe Gründe 4.3 und 4.4.4 des Verweisungsbeschlusses für eine Diskussion dieser nationalen und EPG-Rechtsprechung).

Die Große Beschwerdekammer hält es für einen höchst unattraktiven Vorschlag, dass das EPA bewusst eine konträre Praxis zu den Gerichten einnimmt, die seinen Patenten nachgelagert sind. In diesem Punkt stimmt die Große Beschwerdekammer mit der Harmonisierungsphilosophie des EPÜ überein (siehe G 5/83, Gründe 6, und G 3/08, Gründe 7.2.2).

Ein weiterer Grund für die Ablehnung dieser Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist ein logischer Grund. Die Feststellung, dass die Sprache eines Anspruchs klar und eindeutig ist, ist nämlich bereits ein Auslegungsakt und keine Vorstufe zu einem solchen Auslegungsakt.

Die Große Beschwerdekammer beantwortet daher die Frage 2 wie folgt: Die Beschreibung und etwaige Zeichnungen sind bei der Auslegung der Ansprüche stets heranzuziehen, und zwar nicht nur im Falle von Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten.

Die Große Beschwerdekammer stellt fest, dass die derzeitige Rechtsprechung des EPG, wie sie in der Kopfnote 2 des Beschlusses des EPG-Beschwerdegerichts vom 26. Februar 2024 in der Rechtssache NanoString Technologies -v- 10x Genomics (berichtigt durch den Beschluss vom 11. März 2024) dargelegt
ist, mit den oben genannten Schlussfolgerungen übereinzustimmen scheint.

Die obigen Überlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, dass die Prüfungsabteilung eine qualitativ hochwertige Prüfung vornimmt, ob ein Anspruch die Klarheitserfordernisse des Artikels 84 EPÜ erfüllt. Die richtige Antwort auf jede Unklarheit in einem Anspruch ist eine Änderung.

In Anbetracht des Vorstehenden sieht sich die Erweiterte Kammer in der Lage, die Vorlagefragen 1 und 2 wie folgt zu beantworten:

Die Ansprüche sind der Ausgangspunkt und die Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung gemäß Artikel 52 bis 57 EPÜ. Bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ sind die Beschreibung und die Zeichnungen stets zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen, und zwar nicht nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch bei isolierter Betrachtung für unklar oder mehrdeutig hält.