Die Frage, ob Patentschriften als Beleg für allgemeines Fachwissen vor dem EPA anerkannt werden, kann so wie jede rechtliche Fragestellung mit “Es kommt drauf an.” beantwortet werden.
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1. Richtlinien für die Prüfung
Gemäß den Prüfungsrichtlinien des EPA im Abschnitt G-VII, 3.1 kann eine einzelne Veröffentlichung, wie z.B. eine Patentschrift, normalerweise nicht als ein ausreichender Beleg für allgemeines Fachwissen angesehen werden. Veröffentlichte Patentanmeldungen sind in diesem Zusammenhang auch als Patentschrift zu verstehen.
Dies stellt keinesfalls einen pauschalen Ausschluss von Patentschriften als Beleg für allgemeines Fachwissen dar.
Allerdings wird in der Praxis oftmals aufgrund dieser Textstelle in den Prüfungsrichtlinien zu schnell eine verfehlte Schlussfolgerung gezogen, Patentschriften seien kein qualifizierter Beleg für allgemeines Fachwissen im Prüfungs- oder Einspruchsverfahren vor dem EPA.
Im Folgenden werden zwei repräsentative Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA vorgestellt, in denen Patentschriften als Beleg für allgemeines Fachwissen anerkannt worden sind.
2. T 0412/09 vom 09.05.2012
Die Entscheidung T 0412/09 entstand aus einem Beschwerdeverfahren, in dem die Zurückweisungsentscheidung der Prüfungsabteilung gegen eine Patentanmeldung betreffend ein Verglasungsprüfgerät zur Bestimmung der optischen Qualität einer Verglasung angefochten wurde. In der vorläufigen Meinung vor der anberaumten mündlichen Verhandlung wurden drei Patentschriften als Beleg für allgemeines Fachwissen zur Stützung der fehlenden erfinderischen Tätigkeit der betroffenen Patentanmeldung von der Beschwerdekammer eingeführt. Die Patentanmelderin und zugleich die Beschwerdeführerin hat argumentiert, Patentschriften seien nicht als Beleg für allgemeines Fachwissen zuzulassen.
Die Beschwerdekammer hat im Abschnitt 2.1.3 der Entscheidungsgründe ausgeführt, dass drei Patentschriften, also mehr als eine einzelne Patentschrift, nicht als Beleg für allgemeines Fachwissen zu verneinen sind, weil die betroffene Lehre der streitigen Patentanmeldung prima facie, also dem ersten Anschein nach, aus den drei Patentschriften hervorgeht.
Diese Entscheidung kann beispielsweise in Fällen von einem Einsprechenden herangezogen werden, in denen kein einschlägiges Lehrbuch vorliegt und aus mehr als einer Patentschrift entnommen werden kann, dass das Unterscheidungsmerkmal des Gegenstands des Patents darin eindeutig offenbart ist.
3. T 0051/87 vom 08.12.1988
Diese Entscheidung bezieht sich auf ein Einspruchsbeschwerdeverfahren, in dem eine Beschwerde von der Patentinhaberin gegen die Widerrufsentscheidung der Einspruchsabteilung wegen fehlender technischer Ausführbarkeit eingelegt wurde. Der Gegenstand des Patents betrifft eine chemische Zusammensetzung. Die Patentinhaberin hat eine deutsche Patentanmeldung in das Einspruchsverfahren eingeführt, die zwei Monate vor dem Prioritätsdatums des Patents veröffentlicht wurde, um das allgemeine Fachwissen im Rahmen der technischen Ausführbarkeit zu belegen. Dagegen hat die Einspruchsabteilung argumentiert, Patentschriften seinen generell kein ausreichender Beleg für allgemeines Fachwissen.
Die Beschwerdekammer hat unter Punkt 9 der Entscheidungsgründe erläutert, eine einzelne Patentschrift sei als Beleg für allgemeines Fachwissen heranzuziehen, da das technische Gebiet des Einspruchspatents so neu war, dass kein relevantes Fachwissen in Lehrbüchern beschrieben war.
Der Entscheidung ist jedoch nicht zu entnehmen, unter welchen Voraussetzungen ein technisches Gebiet als neu gilt. Es gilt aber, dass – solange es kein einschlägiges Lehrbuch gibt – Patentschriften als Beleg für allgemeines Fachwissen herangezogen werden können.
4. Fazit
Da die Prüfungsrichtlinien des EPA an sich keinen rechtlichen Charakter aufweisen, sollen die darin zitierten Entscheidungen der Beschwerdekammern berücksichtigt werden, um eine voreilige Schlussfolgerung mit Blick auf Patentschriften als Beleg für allgemeines Fachwissen zu vermeiden.