Ich bin der festen Überzeugung, dass Art.87 EPÜ demselben Anmelder (oder seinem Rechtsnachfolger) für dieselbe Erfindung (im Interesse der Öffentlichkeit) genau einen einzigen Zeitrang gewähren will (nicht zwei oder drei zur Auswahl nach Gutdünken des Anmelders), der dem Anmelder ermöglicht, die Wirkungen von Art. 89 EPÜ für seine Nachanmeldung zu nutzen. Nur so wird aus der Kombination von Art. 87(1) und Art.87(4) eine insgesamt runde Sache.
Besonders deutlich macht dies meiner Meinung nach der letzte Satz von Art.87(4) EPÜ. Wenn nämlich der in Art.87(4) EPÜ kodifizierte Fall eintritt bzw. der Anmelder diesen Fall herbeiführt (es zwingt ihn ja keiner),
dann kann die ältere Anmeldung eben nicht mehr Grundlage für die Beanspruchung eines Prioritätsrechts sein. Das denke ich mir ja nicht aus, sondern das steht so im Gesetz.
87(1) gewährt das Prioritätsrecht aus EP1, und das kann der Anmelder in EP3 beanspruchen, auch wenn EP1 kurz nach dem Anmeldetag zurückgenommen wird. Nun passiert es aber, dass (derselbe) Anmelder in der Zwischenzeit eine Anmeldung EP2 einreicht, in der er, aus welchen Gründen auch immer, nochmal die in EP1 (und später in EP3) beanspruchte Erfindung beschreibt. Das kann z.B. notwendig sein, weil er in EP2 von der in EP1 beanspruchten Erfindung als Stand der Technik ausgeht.
Wenn er das Priorecht aus EP1 erhalten will, dann soll er die Anmeldung nicht zurücknehmen oder deren Prio eben in EP2 beanspruchen oder darauf achten, in EP2 die Erfindung aus EP1 nicht nochmal zu erwähnen oder was weiß ich. Der Anmelder ist doch Herr des Verfahrens. Wenn er - aus welchen Gründen auch immer - Mist baut, ist das eben sein Problem. Soll er halt aufpassen.
Ist 87(4) wirklich so zu verstehen sein, dass durch die bloße Offenbarung der in EP1 beanspruchten Erfindung auch in der EP2 sofort das Recht untergeht, in EP3 die Priorität aus EP1 zu beanspruchen, auch wenn in EP2 sonst keinerlei Beziehung zu EP1 hat? Oder wodurch ruft EP2 diese Wirkung auf EP1 hervor? Was nach dem Anmeldetag in EP2 wirklich beansprucht wird, ist ja erst mal offen.
Dann soll der Anmelder eben dafür Sorge tragen, dass EP1 in dem Moment, in dem er EP2 einreicht, nicht zurückgenommen, fallen gelassen oder zurückgewiesen worden ist, und zwar bevor sie öffentlich ausgelegt worden ist und ohne dass Rechte bestehen geblieben sind und ebenso wenig EP1 schon Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen ist.
Es ist doch nicht so, dass EP2 die erste Anmeldung nur durch Einreichen wird, sondern nur dann, wenn die sehr umfangreichen und spezifischen Voraussetzungen des Art.87(4) im Verhältnis zu EP1 vorliegen. Nicht zu vergessen die Bedingung "für denselben Staat". Das muss man erstmal schaffen, dass alle diese Voraussetzungen überhaupt eintreten. Man tut hier gerade so, als wäre das der Normalfall und als würde EP2 mal eben so und ohne Zutun des Anmelders versehentlich erste Anmeldung.
Im Zweifel muss der Anmelder es eben lassen, ein und dieselbe Erfindung in allen möglichen Anmeldungen zu erwähnen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und von denen er die Ersthinterlegung auch noch rechtzeitig untergehen lässt und dann auch noch vergisst, deren Prio weiterleben zu lassen.
Ich bin nach wie vor der Auffassung dass das Recht, in EP3 (und auch in EP2 !) die Priorität aus EP1 (innerhalb der Frist gem. R 38) zu beanspruchen, durch das bloße Einreichen von EP2 nicht wegfallen kann, das wäre sonst bereits 1000mal passiert. Damit bereits am AT der EP2 kein Recht aus EP1 mehr bestehen geblieben ist, (und nur dann steht sofort fest, dass nur EP2 Erstanmeldung sein kann) müsste der Anmelder vielmehr vorher ausdrücklich darauf verzichten, dass er aus EP1 eine Priorität (nämlich in EP3) in Anspruch nehmen will.
Es ist ja gerade nicht das "bloße Einreichen". Sondern es müssen alle Bedingungen, die Art.87(4) EPÜ formuliert, kumulativ zusammenkommen. Da kann man doch nicht von "bloßem Einreichen" reden. Das passiert eben nicht so eben 1000mal, sondern es stellt per se schon einen Fall dar, der wohl kaum eher zufällig eintreten wird.
Und meiner Ansicht nach: Nein, der Anmelder muss gerade nicht explizit darauf verzichten, dass er das Priorecht aus EP1 in Anspruch nehmen will. Das Priorecht, das noch nicht in Anspruch genommen wurde, ist kein Recht, das im Sinne von Art. 87(4) "bestehen geblieben ist". Deshalb steht da ja die "Doppelbedingung", dass "... ebenso wenig darf diese ältere Anmeldung schon Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen sein. Die ältere Anmeldung kann in diesem Fall nicht mehr als Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts dienen."
EP2 wird also nur dann erste Anmeldung, wenn das Priorecht aus EP1, das ja grundsätzlich erst einmal per definitionem entstanden war (siehe Art.87(1) EPÜ), noch nirgendwo Grundlage einer späteren Prioritätsbeanspruchung war. Wenn dem so ist und EP2 tatsächlich EP1 als erste Anmeldung ersetzt, dann ist eine spätere Inanspruchnahme des ursprünglich aus EP1 entstandenen Priorechts ausgeschlossen, wie der letzte Satz von Art.87(4) EPÜ für diesen Fall nun mal eindeutig festlegt.
Außerdem: vermutlich meinst Du R.38 EPÜ1973, jetzt R.52.
Daher meine ursprüngliche These, dass erst im Nachhinein (nach Ablauf der Frist gem R. 38) festgestellt wird, dass aus EP1 weder das Prioritätsrecht noch irgend ein anderes Recht tatsächlich in Anspruch genommen wurde, und deshalb in EP3 die Inanspruchnahme der Priorität aus EP2 als "zweite" Erstanmeldung wirksam ist. Eine andere praktikable Lösung kann ich leider nicht sehen, auch wenn die dogmatischen Gesichtspunkte nicht von der Hand zu weisen sind.
Wann das "festgestellt" wird, ist doch für das Verhältnis von Art.87 und R.52 völlig egal. Entscheidend ist doch nur, dass im Zeitpunkt der Einreichung von EP3 die Prio von EP2 in Anspruch genommen werden muss, weil das Priorecht, dass EP1 bei deren Einreichung zunächst einmal generiert hatte, durch die spätere Einreichung von EP2 weggefallen ist (unter der Annahme, dass der in Art.87(4) kodifizierte Fall eingetreten ist) und daher für EP3 nicht mehr beansprucht werden kann, weil im Zeitpunkt der Einreichung von EP3 von Gesetz wegen EP1 schlicht nicht mehr als Priogrundlage dienen darf.
Es wird ja auch im zweiseitigen Rechtsbeständigkeitsverfahren erst festgestellt, ob die Prio wirksam beansprucht worden ist, falls dies der Einsprechende oder Nichtigkeitskläger bestreitet und dies entscheidungserheblich sein sollte. Bei Einreichung der Prioerklärung wird ohne konkreten Anlass hierzu sowieso gar nichts "festgestellt", weder von der Formalabteilung, noch von der Rechercheabteilung, noch von der Prüfungsabteilung. Die Prioerklärung ist bloß eine Erklärung. Ob infolge der Erklärung Art. 89 EPÜ wirksam greift, wird nur "festgestellt" bzw. geprüft, wenn es einen Grund dafür gibt, etwa ein im (zu Recht oder zu Unrecht) beanspruchten Priointervall veröffentlichter (potentieller) Stand der Technik.