Da mich das Thema gerade interessiert, möchte ich diese alte Diskussion noch einmal aufgreifen.
Offenbarung (und damit Gültigkeit der Priorität) und Neuheitsprüfung erfolgen grundsätzlich nach identischen Kriterien. Trotzdem kommen sie nicht immer zu demselben Ergebnis.
Beispiel:
Prioanmeldung Anspruch1: A mit B
Nachanmeldung Anspruch 1: A mit B
Anspurch 2: A mit C
Priorität ist für Anspruch 1 zu Recht in Anspruch genommen und daher ist die Prioanmeldung nicht neuheitsschädlich.
Prioanmeldung ist für Anspruch 2 mangels Offenbarung nicht neuheitsschädlich.
Geänderte Nachanmeldung:
Anspruch 1: A mit B oder mit C
Prioanmeldung offenbart diesen Anspruch 1 nicht, keine Priorität.
Prioanmeldung offenbart aber eine Ausführungsart von Anspruch 1, Prioanmeldung ist neuheitsschädlich (falls vor- oder nachveröffentlicht).
Der Effekt tritt immer auf, wenn mehrere Alternativen von Merkmalen in einem Anspruch zusammengefasst werden und nicht alle aus der Prio-Schrift hervorgehen.
Besonders auffällig wird der Effekt, wenn die Alternativen Elemente einer Bereichsangebe sind.
Prioanmeldung: A mit x aus [0...1]
Nachanmeldung: A mit x aus [0...2]
Auch hier zeigt die Prioschrift neuheitsschädliche Ausführungsarten, ohne den Anspruchsgegenstand der Nachanmeldung zu offenbaren.
Das schon genannte Beispiel mit Schraube/Befestigungsmittel geht in dieselbe Richtung.
Lösung: Der zusammengefasste Anspruch der Nachanmeldung muss bereits im Prüfungsverfahren irgendwie aufgeteilt werden in einen Anspruch mit Prio (A mit B) und einen ohne (A mit C). Am besten schon in den ursprünglichen Unterlagen der Nachanmeldung. Im Fall "Bereichserweiterung" sind sonst die Bereichsgrenzen der getrennten Ansprüche nicht offenbart. Späteres Reparieren kann schwierig werden. - - -
Das war die EPÜ-Rechtsauslegung zur Priorität unter dem Stichwort "vergiftete Priorität" bis zur Entscheidung
G1/15. Mit dieser wird (nun auch) für das EP-Verfahren der Auffassung Geltung verschafft, dass die Gültigkeit der Priorität nicht nur für jeden Anspruch einzeln gesondert zu prüfen ist, sondern auch für jede Alternative innerhalb eines Anspruchs, falls nur einige der Alternativen in der Prioanmeldung offenbart sind. Im obigen Beispiel bleibt beim Anspruch 2 ("A mit B oder mit C") die Priorität für Ausführungsarten "A mit B" erhalten, und die Prioschrift ist dann für diese Ausführungsarten nicht mehr neuheitsschädlich (und für die andere Ausführungsart "A mit C" sowieso nicht). Ein Umbauen der Ansprüche in einen Teil der mit der Prioschrift übereinstimmt und einen, der darüber hinausgeht, bleibt dem Anmelder dadurch erspart, auch z.B. für Bereichsangaben.
Für das DPMA-Verfahren gab es bereits zuvor diese "Teilpriorität" (vgl. Schulte, Patentgesetz, 9. Auflage, § 41 Rdn. 46). Eine neuere Entscheidung dazu:
1 Ni 10/15 (EP), wo es heißt:
"Einem Anspruch, der eine spezifische in der Voranmeldung offenbarte Lösung verallgemeinert, steht hinsichtlich der von ihm mitumfassten spezifischen Lösung eine Teilpriorität zu, so dass eine Prioritätsanmeldung diesbezüglich nicht Stand der Technik gegenüber der Nachanmeldung bildet".
Im Übrigen, eine vorveröffentlichte Prioschrift (z.B. ein Gebrauchsmuster) kann, wenn dort irgendetwas fehlt und daher die Priorität nicht wirksam ist (und obwohl keine Neuheitsschädlichkeit mehr gegeben ist) durchaus für die erfinderische Tätigkeit berücksichtigt werden, indem eine zweite Schrift das "Fehlende" nahelegt oder es sogar durch das bloße Fachwissen nahegelegt ist (vgl. BPatG
4 Ni 28/11 (EP) vom 1.8.2013, Abschnitt V.1 ab S. 34). Diese Gefahr ist geblieben.