Fall 1:
EP1 (Gegenstand A) wird eingereicht.
EP2 (Gegenstand A) eingereicht wird, nachdem EP2[*] fallengelassen wurde.
EP3 (Gegenstand A) wird nach 14-Monaten eingereicht und eine Prioerklärung wird fälschlicherweise für EP1 abgegeben.
Kann EP2 noch erste Anmeldung sein?
Fall 2:
EP1 (Gegenstand A) wird eingereicht.
EP2 (Gegenstand B) eingereicht wird, nachdem EP2[*] fallengelassen wurde.
EP3 (Gegenstand A) wird eingereicht
In EP2 wurde Prioerklärung für Prio 1 abgegeben.
Kann EP3 noch erste Anmeldung sein?
[*]Bemerkung: Ich vermute, Du meinst wahrscheinlich in beiden Fällen "nachdem
EP1 fallengelassen wurde" (man kann EP2 schlecht einreichen, nachdem EP2 fallengelassen wurde.
Ich verstehe jetzt, was Du meinst, und in der Tat sind die Fälle nicht trivial.
Bei
Fall 1 tendiere ich sehr stark zu "Ja". M.E. kann es bezüglich derselben Erfindung/desselben Anmelders immer nur ein einziges Prioritätsrecht geben. Oder, mit anderen Worten, es gibt immer nur genau eine "erste Anmeldung", entweder die erste Anmeldung nach Art.87(1) oder die "jüngere Anmeldung" nach Art. 87(4). In Fall 1 ist das nach Art. 87 (4) EPÜ die EP2. Wenn ich in EP3 die Prio von EP1 in Anspruch nehme, dann nehme ich ein Recht in Anspruch, dass gar nicht (mehr) existent ist. Eine solche Erklärung ist offensichtlich fehlerhaft und kann meines Erachtens ohne weiteres nach R.139 EPÜ berichtigt werden oder zumindest, sofern die Frist noch läuft, erneut für EP2 abgegeben werden.
Bei
Fall 2 sehe ich es ähnlich. Wenn EP2 die Prio von EP1 in Anspruch nimmt, aber die Gegenstände A und B so unterschiedlich sind, dass der "Fehler" offensichtlich ist, dann war EP1 zwar "formell" gesehen schon Grundlage der Beanspruchung einer Priorität, aber diese Beanspruchung war offensichtlich fehlerhaft. Vielleicht kann man das etwas ähnlich beurteilen wie die Rücknahmefiktion gemäß §40(5) PatG. Diese tritt eigentlich von Gesetz wegen ein, ohne dass irgendeine Prüfung stattfindet. Sie tritt aber nicht ein bzw. ist anfechtbar, wenn die Prioritätserklärung offensichtlich fehlerhaft ist.
Wenn zum Beispiel Anmelder B versehentlich die Prio einer Anmeldung eines Anmelders A in Anspruch nimmt (etwa wegen eines Zahlendrehers bei der Angabe des Aktenzeichens der ersten Anmeldung) oder wenn Anmelder A versehentlich bei einer Anmeldung, die einen Segelboot betrifft, die Prio einer ebenfalls von ihm stammenden Anmeldung in Anspruch nimmt, die ein Verfahren zum Betrieb eines Kernkraftwerkes betrifft (z.B. weil er sich in der Akte vergreift).
Daher meine ich auch für Fall 2, dass EP3 erste Anmeldung ist, denn die offensichtlich fehlerhafte Priobeanspruchung von EP1 in EP2 kann aufgrund des offensichtlichen Fehlers (Gegenstand A ungleich Gegenstand B), nicht verhindern, dass EP3 als "erste" Anmeldung im Sinne des Art. 87(4) EPÜ angesehen werden kann. Kritisch könnte es werden, wenn Gegenstände A und B sich so ähneln, dass die Beanspruchung der Prio von EP1 in EP2 nicht offensichtlich fehlerhaft ist.