EPÜ Erste Anmeldung - Allgemein

Alfred

*** KT-HERO ***
Folgender Fall:

Prio 1 (DE)
Gegenstand: A
Anmeldung wird zurückgenommen aber aufgrund eines Fehlers dennoch veröffentlicht.

Zurücknahme erfolgt bevor Prio 2 (DE und Gegenstand A) eingereicht wird.

Kann Prio 2 dann noch als erste Anmeldung betrachtet werden?
 

MainPatent

Schreiber
Das hängt nach meinem Verständnis davon ab, wann die Veröffentlichung der Prio 1 erfolgte.

Wurde die Prio 1 erst nach dem Tag der Einreichung der Prio 2 veröffentlicht, gilt die Prio 2 als erste Anmeldung, sofern die anderen Voraussertzungen des Art. 4C.(4) PVÜ / Art. 87(4) EPÜ erfüllt sind. Schließlich wurde die Prio 1 dann bis zum Tag der Einreichung der Prio 2 zurückgenommen, und zwar bevor die Prio 1 öffentlich ausgelegt worden ist und ohne dass Rechte bestehen geblieben sind.

Wurde die Prio 1 veröffentlicht, bevor die Prio 2 eingereicht wurde, sind die Voraussetzungen für Art. 4C.(4) PVÜ / Art. 87(4) EPÜ nicht mehr gegeben. Die Prio 2 kann dann nicht mehr als erste Anmeldung angesehen werden.

Der Umstand, dass die Veröffentlichung versehentlich erfolgte, ändert daran wohl nichts (vgl. z.B. T 585/92: Eine versehentlich veröffentlichte Anmeldung zählt zum Stand der Technik und kann nicht als unschädliche Offenbarung i.S.d. Art. 55 EPÜ gelten).
 

Fip

*** KT-HERO ***
Ich meine, das "temporal Adverb" ist wichtig, aber auf eine Weise, die für diese Aufgabenstellung keine Rolle spielt.


Ich lese das "und zwar bevor ... und ohne dass ..." so, dass sich diese Bedingungen auf die Handlung der Zurücknahme, des Fallen-Lassens oder der Zurückweisung beziehen. Prio1 muss untergegangen sein, "... und zwar bevor ..." Prio1 veröffentlicht wurde, und Prio 1 muss auf eine Weise untergegangen sein, die keine Rechte an der Anmeldung zurücklässt.


Daher spielt es aus meiner Sicht überhaupt keine Rolle ob Prio2 vor oder nach Veröffentlichung von Prio1 angemeldet worden ist. Beide Bedingungen sind erfüllt, egal ob Prio1 bei Anmeldung von Prio2 schon (irrtümlich) veröffentlicht worden war oder nicht.


Daher kann Prio2 als erste Anmeldung betrachtet werden.
 

Pat-Ente

*** KT-HERO ***
Ich bin in diesem Zusammenhang über den englischen Text des EPÜ gestolpert, der m.E. auch eine andere Interpretation zulässt:

"at the date of filing the subsequent application, the previous application has been withdrawn, abandoned or refused, without being open to public inspection and without leaving any rights outstanding"


Ins Deutsche übersetzt steht da nicht "... und zwar bevor ..." sondern "... ohne dass ..." sie veröffentlicht ist.



Das Gleiche gilt auch für die Französische Fassung, "sans avoir été soumise à l'inspection publique".


Im Fall der (versehentlichen) Veröffentlichung vor dem Datum der Einreichung von Prio2 wäre diese dann nicht mehr erste Anmeldung, oder seht Ihr das anders?
 

Hans35

*** KT-HERO ***
In der deutschen Fassung von Art. 87 (4) EPÜ heißt es "und zwar bevor sie (die erste Anmeldung) öffentlich ausgelegt worden ist", und es ist m.E. nicht eindeutig, ob sich "bevor" grammatikalisch auf die Rücknahme (bzw. Wegfall) der ersten Anmeldung bezieht (gemäß Fip), oder doch auf die Einreichung der zweiten Anmeldung (gemäß MainPatent). In der englischsprachigen Fassung sehe ich dieselbe Unklarheit.

Sinnvoll scheint mir dabei aber nur letzteres, also die Bezugnahme auf den Anmeldetag der zweiten Anmeldung, d.h auf das dann gültige Prioritätsdatum, denn genau dieser Tag unterscheidet, was für die Inanspruchnahme dieser Priorität Bedeutung hat, und was nicht. Gemeint ist dann mit dem fraglichen Halbsatz nämlich: Wenn an diesem Tag etwas bereits veröffentlicht ist, dann soll nicht später ein Prioritätsrecht auf diesen Gegenstand entstehen; was später veröffentlicht wird, hat keine Bedeutung für diese Priorität.

Bei der erstgenannten Auslegung fragt man sich hingegen, warum die Wirksamkeit der Priorität aus der zweiten Anmeldung davon abhängen soll, ob die Offenlegung der erste Anmeldung vor oder nach ihrem verfahrensrechtlichen Wegfall geschieht, und das ist im Einzelfall vielleicht nicht einmal einfach zu ermitteln. Denn auch eine Offenlegung nach Wegfall kommt ja in Betracht, nicht nur durch einen "Fehler" (wie in der Ausgangsfrage), sondern auch, weil eine bereits eingeleitete Offenlegung ggf. nicht noch am Tag des Wegfalls der Anmeldung gestoppt werden kann.

M.E. ist es sinnvoll, wenn es nur darauf ankommt, dass die erste Anmeldung überhaupt folgenlos untergegangen ist, egal wann. Ihre eventuelle Offenlegung nach dem Prioritätstag (aus der zweiten Anmeldung) ist dann bedeutungslos.
 
Zuletzt bearbeitet:

Pat-Ente

*** KT-HERO ***
Noch ein Nachtrag: Wenn die Prio1 vor Einreichung der Prio2 öffentlich zugänglich gewesen wäre, dann könnte die Prio2 ohnehin nicht sinnvoll als Grundlage einer Priorität (für den Gegenstand der Prio1) dienen. Selbst wenn Prio2 (aufgrund der Rücknahme der Prio1) formal als erste Anmeldung gelten würde, wäre der Gegenstand ja nicht neu.
 

Fip

*** KT-HERO ***
Zunächst mal stimme ich zu, dass es schwierig ist, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen.


Was die Aussage von Pat-Ente zum englischen Wortlaut angeht, so reicht es mir nicht, einfach zu sagen, im Englischen stehe dort lediglich "... ohne dass ...".


Im Englische steht dort "... has been withdrawn ... without being open ...". Wenn man die Zeiten des Verbs "to be" in dem Sinne mit einbezieht (insb. das "present progressive"), dass dort steht "... zurückgenommen worden ist ... ohne dass sie [in diesem Moment] für öffentliche Einsicht zugänglich ist ...", dann ist man wieder bei der ersten von mir favorisierten Auslegung. Mit anderen Worten: Das Untergehen der ersten Anmeldung führt nur dann dazu, dass die zweite Anmeldung ein neues Prioritätsrecht entstehen lässt, wenn die erste Anmeldung zu einem Zeitpunkt zurückgenommen worden ist, an dem diese erste Anmeldung noch nicht öffentlich zugänglich war.


Hierfür spricht m.E. außerdem, dass es schwer zu begründen ist, die Möglichkeit des Anmelders, ein Prioritätsrecht nochmal entstehen zu lassen, von Vorgängen abhängig zu machen, auf die er im Zweifel keinen Einfluss hat. Außerdem spricht dafür, dass selbst dann, wenn die erste Anmeldung veröffentlicht wird, die Öffentlichkeit anhand der "file inspection" erkennen kann, ob diese erste Anmeldung noch Rechte übrig gelassen hat, so dass die Öffentlichkeit auch weiß, dass mit der Priorität dieser ersten Anmeldung keine Nachanmeldung entstehen kann. Daher heißt es in der Vorschrift auch weiter, dass "ebenso wenig darf diese ältere Anmeldung schon Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen sein". Die Priorität der zweiten (jüngeren) Anmeldung kann nur wirksam in Anspruch genommen werden, wenn der Anmelder die Priorität der ersten (älteren) Anmeldung noch nicht beansprucht hat.



Hans35 schreibt: "Bei der erstgenannten Auslegung fragt man sich hingegen, warum die Wirksamkeit der Priorität aus der zweiten Anmeldung davon abhängen soll, ob die Offenlegung der erste Anmeldung vor oder nach ihrem verfahrensrechtlichen Wegfall geschieht"


Ganz einfach: Wenn bei Offenlegung der ersten Anmeldung für die Öffentlichkeit ersichtlich ist, dass diese erste (ältere) Anmeldung bereits untergegangen ist, ohne das Rechte übrig geblieben sind, und diese erste (ältere) Anmeldung auch keine Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen ist, dann weiß man, dass ggf. eine zweite (jüngere) Anmeldung ein Prioritätsrecht generiert haben könnte, das in Anspruch genommen werden bzw. worden sein könnte. Ist hingegen die erste (ältere) Anmeldung zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung noch "am Leben", dann weiß mann, dass nur diese erste (ältere) Anmeldung die Grundlage eines in Anspruch genommenen Prioritätsrechts sein kann und dass keine zweite (jüngere) Anmeldung existieren oder zukünftig entstehen kann, aus der für dieselbe Erfindung ein weiteres Prioritätsrecht existiert.


Ich kann vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht erkennen, warum die Frage, ob ein Anmelder wirksam ein neues, jüngeres Prioritätsrecht generieren kann, davon abhängen soll, ob zu dem Zeitpunkt der zweiten (jüngeren) Anmeldung die erste (ältere) Anmeldung bereits öffentlich ausgelegt worden ist oder nicht, wenn sich im ersteren Fall der bereits stattgefundenen öffentlichen Auslegung durch "public inspection" feststellen lässt, dass die erste (ältere) Anmeldung gar keine Rechte mehr gewährt.
 

Fip

*** KT-HERO ***
Noch ein Nachtrag: Wenn die Prio1 vor Einreichung der Prio2 öffentlich zugänglich gewesen wäre, dann könnte die Prio2 ohnehin nicht sinnvoll als Grundlage einer Priorität (für den Gegenstand der Prio1) dienen. Selbst wenn Prio2 (aufgrund der Rücknahme der Prio1) formal als erste Anmeldung gelten würde, wäre der Gegenstand ja nicht neu.

Das ist in der Sache richtig, aber m.E. für die Vorschrift nicht auslegungsrelevant. Diese Rechtsfolge ergibt sich, wenn man von dem Verhältnis 18-Monate Veröffentlichungsfrist vs. 12 Monate Priofrist ausgeht, sowieso. Warum sollte die Vorschrift etwas "nochmal" regeln wollen, was sich doch sowieso ergibt?

Im Übrigen gibt es Länder mit Neuheitsschonfristen, für die die Aussage nicht zutreffen würde.
 
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Fip

*** KT-HERO ***
Mein Gott, ich steigere mich gerade in Diskussion rein … Naja, egal.

In der Vorschrift heißt es abstrakt:

"..., sofern diese ältere Anmeldung bis zur Einreichung der jüngeren Anmeldung zurückgenommen, fallen gelassen oder zurückgewiesen worden ist, und zwar UNTER BEDINGUNG 1 und WENN BEDINGUNG 2; ..."

Ich denke wir sind uns einig, dass sich "BEDINGUNG 2" nur auf die Handlung bzw. die Wirkung bzw. die Folgen der Rücknahme, des Fallen-Lassens oder der Zurückweisung beziehen kann.

Warum aber verknüpft man in einer in einem einzigen Halbsatz befindlichen "UND" Verknüpfung zwei Bedingungen, von denen sich eine (eindeutig nur) auf die Rücknahme, das Fallen-Lassen oder die Zurückweisung der älteren Anmeldung bezieht und die andere Bedingung auf den Tag der Einreichung der jüngeren Anmeldung.

Nun spreche ich kein Französisch, aber was denn "Sprachfluss" der Vorschrift angeht, so kann sich m.E. weder im Englischen noch im Deutschen der die über "UND" verknüpften Bedingungen aufstellende Halbsatz sinnvoll auf zwei verschiedene Ausgangspunkte bzw. Umstände beziehen.
 

Pat-Ente

*** KT-HERO ***
Gute Analyse, Fip!


Ergebnis wäre also, dass es für die Entstehung eines neuen Prioritätsrechtes durch die Prio2 unerheblich ist, ob die Prio1 vor oder nach der Einreichung der Prio2 (oder auch gar nicht) öffentlich wird, sofern sie bei ihrer Rücknahme/Zurückweisung nicht öffentlich war und auch keine Rechte übrig geblieben sind. Allerdings kann abhängig vom Veröffentlichungszeitpunkt ein Neuheitsproblem für die Prio2 entstehen ...
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Für diese Auslegung spricht doch einiges.

Es wäre zu überlegen, ob Art 54(3) EPÜ, also wenn es um die Neuheitsschädlichkeit einer nachveröffentlichten älteren Anmeldung geht, in gleicher Weise auszulegen ist. Das würde bedeuten, dass eine nachveröffentlichte ältere Anmeldung nur dann rückwirkend durch ihre Veröffentlichung Stand der Technik wird, wenn sie bei ihrer Veröffentlichung noch nicht weggefallen ist. Die Veröffentlichung einer "toten" Anmeldung, die nur nicht rechtzeitig gestoppt werden konnte, wäre dann nur noch eine "normale" Veröffentlichung, die nicht die 54(3)-Folgen bewirkt, sondern einfach nur ab ihrem Veröffentlichungsdatum Stand der Technik ist.
 
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Fip

*** KT-HERO ***
@Hans35: Das ist doch auch so

siehe z.B. Singer Stauder, 7. Auflage, Art. 54, Rn. 126

"Eine nicht vorveröffentlichte europäische Anmeldung gehört unter folgenden Voraussetzungen zum Stand der Technik nach Art 54 (3):
1. …
2. …
3. die ältere Anmeldung muss bei ihrer Veröffentlichung noch wirksam sein. Ist sie vor dem Veröffentlichungstag zurückgenommen oder auf andere Weise ungültig geworden, aber doch veröffentlicht, … , so wird sie nicht zum älteren Recht nach Abs 3, sondern wirkt nur ab ihrem Veröffentlichungstag als gewöhnliche Veröffentlichung, Art 54 (2)"
 
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Hans35

*** KT-HERO ***
Nein, das weiß man erst, wen unabänderlich feststeht, welche Anmeldung die Voraussetzungen für eine Erstanmeldung erfüllt.

Sobald EP2 oder EP3 die Priorität aus EP1 in Anspruch nimmt, steht EP1 (und nicht EP2) als Erstanmeldung fest, weil dann EP1 ja nicht mehr "folgenlos" ist. Geschieht dies nicht, wird EP2 Erstanmeldung, aber das steht erst fest, wenn die First zur Inanspruchnahme einer Priorität aus EP1 abgelaufen ist. Der Anmelder mag sich das bis dahin selbst aussuchen.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
D.h. nach Ablauf der Priofrist für EP1, wäre EP2 automatisch erste Anmeldung?
Nur, wenn du unter Priofrist die 16monatige Frist für das Einreichen einer Prioritätserklärung verstehst, die ab dem AT der EP1 zählt.

Wenn nach Prioablauf von EP1, EP3 eingereicht wird, welche die Prio der EP1 beansprucht, wäre EP2 erste Anmeldung?
Wenn die Anmeldung EP3 später als 12 Monate nach EP1 eingereicht ist, kann in der EP3 nicht mehr die Priorität aus der EP1 in Anspruch genommen werden. Eine zur EP3 eingereichte Prioritätserklärung, die auf EP1 gerichtet ist, wäre in diesem Fall also unwirksam und daher für die Frage, ob EP1 für EP2 (oder für irgendeine EP4) Erstanmeldung sein kann, belanglos.

... in der Literatur gefunden, was aber widersprüchlich erscheint ...
Wo soll da der Widerspruch sein?
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Die letzten Zitate bezogen sich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung.
Was soll bezüglich des Zeitpunkts welcher Veröffentlichung widersprüchlich sein?

Im übrigen:
Die "First zur Inanspruchnahme einer Priorität aus EP1" in Beitrag #17 ist die Frist aus Regel 52(2), das kann man wohl kaum missverstehen. Denn die Inanspruchnahme erfolgt ja erst durch eine fristgerechte Prioritätserklärung. Erst nach dem Ablauf dieser Frist kann EP2 automatisch erste Anmeldung sein. Die Inanspruchnahme hat nur insofern etwas mit dem Anmeldetag der Nachanmeldung zu tun, als für diesen die 12monatige "Prioritätsfrist" (oder "Priofrist") gilt und deren Einhaltung eine der Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Inanspruchnahme der Priorität ist.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Bei Bremi heißt es, "sie (die ältere Anmeldung, also EP1) darf bis zu diesem Zeitpunkt (Anmeldetag EP2) nicht öffentlich ausgelegt worden sein".

In BeckOK bedeutet "Eine Veröffentlichung (von EP1) nach dem Anmeldetag der jüngeren ersten Anmeldung (EP2) ist unschädlich." Das ist damit konsistent.

Bei Benkard bedeutet "wenn sie (EP1) nicht vorveröffentlicht ist", dass EP1 nicht vor dem in Anspruch genommenen Prioritätstag der zu beurteilenden Anmeldung (EP3), veröffentlicht sein darf. Das ist aber der Hinterlegungstag von EP2, das ist also auch dasselbe.
 
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