Zunächst mal stimme ich zu, dass es schwierig ist, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen.
Was die Aussage von Pat-Ente zum englischen Wortlaut angeht, so reicht es mir nicht, einfach zu sagen, im Englischen stehe dort lediglich "... ohne dass ...".
Im Englische steht dort "... has been withdrawn ... without being open ...". Wenn man die Zeiten des Verbs "to be" in dem Sinne mit einbezieht (insb. das "present progressive"), dass dort steht "... zurückgenommen worden ist ... ohne dass sie [in diesem Moment] für öffentliche Einsicht zugänglich ist ...", dann ist man wieder bei der ersten von mir favorisierten Auslegung. Mit anderen Worten: Das Untergehen der ersten Anmeldung führt nur dann dazu, dass die zweite Anmeldung ein neues Prioritätsrecht entstehen lässt, wenn die erste Anmeldung zu einem Zeitpunkt zurückgenommen worden ist, an dem diese erste Anmeldung noch nicht öffentlich zugänglich war.
Hierfür spricht m.E. außerdem, dass es schwer zu begründen ist, die Möglichkeit des Anmelders, ein Prioritätsrecht nochmal entstehen zu lassen, von Vorgängen abhängig zu machen, auf die er im Zweifel keinen Einfluss hat. Außerdem spricht dafür, dass selbst dann, wenn die erste Anmeldung veröffentlicht wird, die Öffentlichkeit anhand der "file inspection" erkennen kann, ob diese erste Anmeldung noch Rechte übrig gelassen hat, so dass die Öffentlichkeit auch weiß, dass mit der Priorität dieser ersten Anmeldung keine Nachanmeldung entstehen kann. Daher heißt es in der Vorschrift auch weiter, dass "ebenso wenig darf diese ältere Anmeldung schon Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen sein". Die Priorität der zweiten (jüngeren) Anmeldung kann nur wirksam in Anspruch genommen werden, wenn der Anmelder die Priorität der ersten (älteren) Anmeldung noch nicht beansprucht hat.
Hans35 schreibt: "Bei der erstgenannten Auslegung fragt man sich hingegen, warum die Wirksamkeit der Priorität aus der zweiten Anmeldung davon abhängen soll, ob die Offenlegung der erste Anmeldung vor oder nach ihrem verfahrensrechtlichen Wegfall geschieht"
Ganz einfach: Wenn bei Offenlegung der ersten Anmeldung für die Öffentlichkeit ersichtlich ist, dass diese erste (ältere) Anmeldung bereits untergegangen ist, ohne das Rechte übrig geblieben sind, und diese erste (ältere) Anmeldung auch keine Grundlage für die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts gewesen ist, dann weiß man, dass ggf. eine zweite (jüngere) Anmeldung ein Prioritätsrecht generiert haben könnte, das in Anspruch genommen werden bzw. worden sein könnte. Ist hingegen die erste (ältere) Anmeldung zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung noch "am Leben", dann weiß mann, dass nur diese erste (ältere) Anmeldung die Grundlage eines in Anspruch genommenen Prioritätsrechts sein kann und dass keine zweite (jüngere) Anmeldung existieren oder zukünftig entstehen kann, aus der für dieselbe Erfindung ein weiteres Prioritätsrecht existiert.
Ich kann vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht erkennen, warum die Frage, ob ein Anmelder wirksam ein neues, jüngeres Prioritätsrecht generieren kann, davon abhängen soll, ob zu dem Zeitpunkt der zweiten (jüngeren) Anmeldung die erste (ältere) Anmeldung bereits öffentlich ausgelegt worden ist oder nicht, wenn sich im ersteren Fall der bereits stattgefundenen öffentlichen Auslegung durch "public inspection" feststellen lässt, dass die erste (ältere) Anmeldung gar keine Rechte mehr gewährt.