DE Bindungswirkung einer Entscheidung im Prüfungsverfahren über die Offenbarung

Hans35

*** KT-HERO ***
Die Offenbarung des Anmeldungsgegenstands erfolgt in den Anmeldungsunterlagen, zu denen die Ansprüche, die Beschreibung und die Figuren gehören (§ 34 PatG). Weitere Unterlagen, die am AT eingereicht werden, bilden nicht Teil der Offenbarung. Hierzu gehören insbesondere die Prioritätsunterlagen. Selbst eine ausdrückliche Bezugnahme hilft da nicht.

Im Widerspruch hierzu wird in der Entscheidung des BPatG 1 W (pat) 6/22 vom 9. 10. 2023 anerkannt, dass die zu den Priounterlagen eingereichten Figuren auch als Teil der Anmeldungsunterlagen gelten, nachdem letztere bei der Einreichung vergessen worden waren. (Die Figuren waren also tatsächlich nur einmal bei den Unterlagen dabei, und zwar bei den Priounterlagen).

Egal wie überzeugend die Begründung des ersten (juristischen) Senats zu diesem "Ausnahmefall" sein mag: Hat diese Entscheidung Bindungswirkung für ein späteres Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren? Oder muss der Anmelder damit rechnen, dass das Patent, wenn es denn erteilt wird, im Einspruch wegen unzulässiger Erweiterung widerrufen wird, weil es diese Figuren enthält, die (dann nach Auffassung der Einspruchsabteilung bzw. eines technischen Senats) eben doch nicht zum Offenbarungsumfang gehören?
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Angenommen, die Entscheidung ist rechtskräftig oder eine eventuelle Rechtsbeschwerde des DPMA führt nicht zum Erfolg, dann geht es hier nur noch um die Frage, was der Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung für § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG ist.

Und da ist das DPMA dann an die Entscheidung des BPatG auch im Einspruchsverfahren gebunden (§ 79 Abs. 3 S. 2 PatG entsprechend).

Im Nichtigkeitsverfahren gibt es aber keine Beschränkung derart, dass der (in jedem Fall andere) BPatG Senat die Frage nicht selbst beurteilen könnte. Nur im Fall der nicht erfolgreichen Rechtsbeschwerde würde jedoch auch der BPatG Senat in der Praxis die Entscheidung des BGH generell anwenden.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
§79 Abs. 3 lautet:
Das Patentgericht kann die angefochtene Entscheidung aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, wenn ...
Das Deutsche Patent- und Markenamt hat die rechtliche Beurteilung, die der
Aufhebung zugrunde liegt, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

Ich lese das so, dass eine Bindung erst mal nur für das Erteilungsverfahren besteht, d.h. dass die Entscheidung die Entscheidung des DPMA über die Anmeldung ist (also Erteilung oder Zurückweisung), und dass da keine weitergehende Bindung eintritt, also auch nicht für das Einspruchsverfahren. Aber man kann das sicher auch anders lesen.

Eigentlich geht es mir darum, dass hier hoffentlich jemand mitliest, der in einem vergleichbaren Fall die Möglichkeit hat, deutliche Worte zu finden, dass es so nicht geht. Denn hier wird ein Tor aufgestoßen, so dass schließlich niemand mehr klar weiß, was denn wo offenbart ist, oder doch nicht. (Am Ende kann dann bei jeder Gelegenheit argumentiert werden: "Das steht doch aber in den Prio-Unterlagen.") Es wäre m.E. tragisch, wenn die bisherige Klarheit wirklich aufgeweicht wird.

In jedem Fall hat der Anmelder in der 1 W (pat) 6/22 nichts von seinem Sieg, wenn er dauerhaft mit der Ungewissheit leben muss, ob dieser Bestand hat.
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Ich lese das so, dass eine Bindung erst mal nur für das Erteilungsverfahren besteht, d.h. dass die Entscheidung die Entscheidung des DPMA über die Anmeldung ist (also Erteilung oder Zurückweisung), und dass da keine weitergehende Bindung eintritt, also auch nicht für das Einspruchsverfahren. Aber man kann das sicher auch anders lesen.
Ja, deshalb gilt es in diesem konkreten Fall auch nur „entsprechend“.

Siehe etwa Schulte GRUR 1975, 573, 577:
Diese Vorschrift ist durch das PatÄndG 1967 in das Patentgesetz eingefügt worden. Sie besagt nichts Neues, da vorher durch die Verweisung in § 41o Abs. 1 PatG die Bestimmung des § 565 Abs. 2 ZPO, die im Beschwerdeverfahren nach der ZPO entsprechend abzuwenden ist, galt. § 565 Abs. 2 ZPO stimmt mit dem jetzigen § 36p Abs. 3 Satz 2 PatG fast wortgleich überein.

Die Bindung der Vorinstanz an die rechtliche Beurteilung der höheren Instanz ist im Interesse der Rechtssicherheit, des Rechtsfriedens und des Vertrauensschutzes der Verfahrensbeteiligten notwendig. Würde sie nämlich fehlen, so bestünde die Möglichkeit, daß die untere Instanz von der restlichen Beurteilung der höheren Instanz abweichen könnte. Damit würde die Gefahr heraufbeschworen, daß das Verfahren auf Kosten der Verfahrensbeteiligten unabsehbar zwischen beiden Instanzen hin- und herpendeln würde. Der Zweck des § 36p Abs. 3 Satz 2 PatG besteht daher darin, "zu verhindern, daß die endgültige Entscheidung der Sache dadurch verzögert oder gar verhindert wird, daß sie zwischen Vorinstanz und Gericht hin- und hergeschoben wird, weil keines der beiden Gerichte seine Rechtsauffassung ändert" 25. Um diesen erstrebten Erfolg zu erzielen, institutionalisiert § 36p Abs. 3 Satz 2 PatG "die ohnehin bestehende, sich aus dem Instanzenzug ergebende Autorität des übergeordneten Gerichts; es soll vermieden werden, daß sich die Vorinstanz im Einzelfall nicht an die der Zurückverweisung zugrunde liegende Rechtsauffassung des Gerichts hält" 25.
25. Gms - OGB vom 6. 2. 1973, abgedruckt in BGHZ 60, 392, 396 f. = NJW 1973, 1273

Das DPMA würde auch im (zeitlich nahe liegenden) Einspruchsverfahren eine erneute Beschwerde bei dem gleichen Beschwerdesenat (siehe Geschäftsverteilung des BPatG) und damit eine Verzögerung provozieren, wenn es von der Rechtsauffassung des Beschwerdesenats im Erteilungsverfahren abweichen würde, wenn sich in dem betreffenden Punkt an der Sachlage rein gar nichts geändert hätte.
 
Zuletzt bearbeitet:

Hans35

*** KT-HERO ***
Das DPMA würde auch im (zeitlich nahe liegenden) Einspruchsverfahren eine erneute Beschwerde bei dem gleichen Beschwerdesenat (siehe Geschäftsverteilung des BPatG) und damit eine Verzögerung provozieren, ...
Diesmal nicht. Denn der Prüfer hatte sich nicht an die Regel gehalten, bei nicht behebbaren Meinungsverschiedenheiten mit dem Anmelder immer die Anmeldung insgesamt zurückzuweisen, so dass über die Beschwerde gem § 67 ein technischer Senat entscheidet. Stattdessen hat er einen Beschluss des Inhalts gefasst, dass die Figuren aus den Priounterlagen nicht Teil der Offenbarung der Anmeldung sind.
Vgl. S. 4 des Beschlusses:
Mit Beschluss vom 25. September 2019 hat das DPMA – Patentabteilung 55 – die Anträge I, II und III (Hauptantrag und Hilfsanträge 1 und 2) zurückgewiesen und gemäß 3. Hilfsantrag (= Antrag IV) entschieden, dass die Anmeldung ohne Bezugnahme auf die Zeichnungen fortgesetzt wird.

Da sich die Beschwerde gegen diesen Beschluss richtet und nicht gegen die Zurückweisung der Anmeldung, war nun der 1. Senat, der juristische Senat zuständig und nicht der nach der Geschäftsverteilung fachlich zuständige Senat des BPatG.

Ich möchte vermuten, dass ein technischer Senat eine solche Entscheidung nicht getroffen und insbesondere nicht § 133 BGB in diesem Maße strapaziert hätte, und dass sie bei Gelegenheit durch einen technischen Senat revidiert wird.

Evtl. ist die Entscheidung des 1. Senats aber auch politisch motiviert, indem versucht wird, sich ein Stück dem Verfahren des EPA (Regel 56 Abs. 3 EPÜAO) anzunähern. Ich denke aber, es ist zum Scheitern verurteilt, wenn eine Praxis, die jeder DPMA-Prüfer (und auch jeder technische Richter im BPatG) seit Jahrzehnten ausübt, ohne Änderung der rechtlichen Grundlage verändert werden soll.
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Gut, ich hatte die Entscheidung nicht wirklich gelesen und nur ganz kurz überflogen. Dann gibt es hier auch im Einspruchsverfahren eher keine rechtliche Bindungswirkung. Faktisch wird die Patentabteilung sich aber trotzdem mit der BPatG-Entscheidung auseinandersetzen müssen und wird keine eigene abweichende Meinung aufbauen da es sich hier um einen Ausnahmefall handelt auf dem ganz sicher kein anwaltlich vertretener Anmelder eine entsprechende Anmeldepraxis entwickeln würde. Auch die Präsidentin hat keine Notwendigkeit gesehen, am Beschwerdeverfahren nach § 76 PatG mitzuwirken, wenn schon das BPatG von einem Beitritt nach § 77 BPatG abgesehen hat. Da müsste dann schon der Einsprechende sehr, sehr schwere Geschütze auffahren und überzeugend darlegen, warum die BPatG-Entscheidung falsch sein sollte. Und so würde es dann auch im Falle der Beschwerde des Einsprechenden laufen. Auch im Nichtigkeitsverfahren würde sich der Nichtigkeitssenat sehr schwer damit tun, vom juristischen Senat abzuweichen. Wie der BGH für einen solchen Ausnahmefall entscheiden würde, kann man nicht wissen.
 
Zuletzt bearbeitet:

Hans35

*** KT-HERO ***
Auch die Präsidentin hat keine Notwendigkeit gesehen, am Beschwerdeverfahren nach § 76 PatG mitzuwirken, wenn schon das BPatG von einem Beitritt nach § 77 BPatG abgesehen hat.
Das ist in der Tat bemerkenswert, und über die Gründe kann nur spekuliert werden. Meine persönliche Spekulation geht dabei eher dahin, dass seitens des juristischen Senats eine Mitwirkung des DPMA nicht gewollt bzw. in dem Maße gefördert wurde, wie das eigentlich angezeigt gewesen wäre, und dass seitens des DPMA sich niemand eine solche Entscheidung überhaupt vorstelle konnte. (Wenn man es schärfer ausdrücken will, könnte man sagen, dem DPMA wurde das rechtliche Gehör vorenthalten. Denn wenn von einer langjährige Praxis des DPMA im Handstreich abgewichen werden soll, indem § 133 BGB über den insofern eindeutigen § 34 PatG gestellt wird, wäre es zumindest erforderlich, der Präsidentin anheim zu geben, eine Stellungnahme abzugeben.)

Ob sich ein Nichtigkeitssenat schwer tun würde, in einem solchen Fall dem juristischen Senat zu widersprechen, bleibt abzuwarten. Es wäre ja nicht der erste Fall voneinander abweichender Entscheidungen.
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Meine persönliche Spekulation geht dabei eher dahin, dass seitens des juristischen Senats eine Mitwirkung des DPMA nicht gewollt bzw. in dem Maße gefördert wurde, wie das eigentlich angezeigt gewesen wäre, und dass seitens des DPMA sich niemand eine solche Entscheidung überhaupt vorstelle konnte.
Offensichtlich hast Du dann aber dieser Passage in der Entscheidung nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet:
Dementsprechend gehören auch Prioritätsunterlagen, die nicht Teil der Anmeldung i. S. d. § 34 Abs. 3 PatG sind, grundsätzlich nicht zu den Offenbarungsmitteln, es sei denn, sie sind ausnahmsweise eindeutig als Offenbarungsgehalt der Anmeldung gekennzeichnet (vgl. Benkard/Schacht, PatG, 12. Aufl. 2023, § 34 Rn. 146 m. w. N.).
An der zitierten Stelle steht dann nämlich:
Prioritätsunterlagen gehören grundsätzlich nicht zur Anmeldung und werden nur dann berücksichtigt, wenn sie als Offenbarungsgehalt eindeutig gekennzeichnet sind, BPatG BeckRS 2016, 1140.
Es handelt sich bei der früheren Entscheidung um diese:
BPatG Beschl. v. 23.5.2016 – 19 W (pat) 19/15
 

Hans35

*** KT-HERO ***
...
Dementsprechend gehören auch Prioritätsunterlagen, die nicht Teil der Anmeldung i. S. d. § 34 Abs. 3 PatG sind, grundsätzlich nicht zu den Offenbarungsmitteln, es sei denn, sie sind ausnahmsweise eindeutig als Offenbarungsgehalt der Anmeldung gekennzeichnet (vgl. Benkard/Schacht, PatG, 12. Aufl. 2023, § 34 Rn. 146 m. w. N.).

An der zitierten Stelle steht dann nämlich:
Prioritätsunterlagen gehören grundsätzlich nicht zur Anmeldung und werden nur dann berücksichtigt, wenn sie als Offenbarungsgehalt eindeutig gekennzeichnet sind, BPatG BeckRS 2016, 1140.
Es handelt sich bei der früheren Entscheidung um diese:
PatG Beschl. v. 23.5.2016 – 19 W (pat) 19/15

Die Entscheidung 19 W (pat) 19/15 stützt diese Auffassung von Benkard/Schacht leider nicht, weil es dort im Wesentlichen um einen Zustellungsmangel ging und es dort gerade nicht ein Beispiel dafür gibt, was eine "eindeutige Kennzeichnung als Offenbarungsgehalt" sein könnte. Diese Forderung von Benkard ist m.E. jedenfalls für den Fall von Figuren, die beim Einreichen der Anmeldungsunterlagen vergessen wurden, lebensfremd; ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Beispiel dafür aussehen könnte. Sie kann m.E. nur für den Fall sinnvoll verstanden werden, dass ein Einzelanmelder irgendeinen Unfug gemacht hat. Einem Patentanwalt, der aus einem anderen Grund (aus ein anderer Grund als ein Irrtum, der sicher keine besondere "Kennzeichnung" zu Folge hat) auf die Priounterlagen als Offenbarungsmittel zurückgreifen möchte, würde ich dringend empfehlen, darüber rechtzeitig noch einmal nachzudenken.
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Die Entscheidung 19 W (pat) 19/15 stützt diese Auffassung von Benkard/Schacht leider nicht, weil es dort im Wesentlichen um einen Zustellungsmangel ging und es dort gerade nicht ein Beispiel dafür gibt, was eine "eindeutige Kennzeichnung als Offenbarungsgehalt" sein könnte.
Das wird aus dieser Passage abgeleitet:
Die Figuren 2A und 2B, sind, ebenso wie die übrigen Figuren der chinesischen Prioritätsanmeldung, der Anmeldung auch nicht dadurch beigefügt, dass sie von der zusammen mit der Anmeldung eingereichten chinesischen Prioritätsanmeldung umfasst sind. Zutreffend hat die Prüfungsstelle festgestellt, dass Prioritätsunterlagen grundsätzlich nicht zu der Anmeldung i. S. d. § 34 Abs. PatG gehören und nur dann berücksichtigt werden können, wenn sie als Offenbarungsgehalt der Anmeldung eindeutig gekennzeichnet sind (vgl. Schulte, a. a. O., § 34 Rdn. 298 und § 35 Rdn. 20 a. E.; Benkard, PatG, 11. Aufl., 2015, § 34 Rdn. 35a). Ein irgendwie gearteter Hinweis darauf, dass die Zeichnungen der chinesischen Prioritätsanmeldung diejenigen sein sollen, die zu der Anmeldung gehören, findet sich jedoch an keiner Stelle in dem Erteilungsantrag und den dazu eingereichten Unterlagen.

So lautet dann auch einer der redaktionellen Leitsätze für die Entscheidung in der Fachliteratur:
1. Prioritätsunterlagen gehören grundsätzlich nicht zur Anmeldung und werden nur dann berücksichtigt, wenn sie als Offenbarungsgehalt eindeutig gekennzeichnet sind.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Das sehe ich ganz genau so, nur sehe ich keine praktische Anwendung dafür, weil sich eine solche "Kennzeichnung" nicht finden wird. Denn dann hätte der Anmelder (statt der Kennzeichnung) die Anmeldungsunterlagen ja gleich vollständig einreichen können.

In der Rechtsprechung sehe ich nur Fälle, wo dieser Satz in der "Fachliteratur" (also bei Schulte) blind abgeschrieben und wiederholt wird, ohne dass er tatsächlich Anwendung findet. Man könnte mal untersuchen, wie dieser Satz (vermutlich bereits vor sechs Jahrzehnten) in den Schulte gelangt ist. Ich kann mir da nichts anderes vorstellen, als dass mal irgendeinem Einzelanmelder die Anmeldung "gerettet" werden sollte.

Im Ausgangsfall gab es jedenfalls keine solche Kennzeichnung, da wurde einfach nur § 133 BGB aus der Sicht von Juristen angewandt und überstrapaziert. (Überstrapazieren des § 133 BGB bedeutet für mich: Es genügt, wenn ich einfach nur alles richtig machen will, dass ich so gestellt werde, als hätte ich es richtig gemacht, ohne dass ich mich tatsächlich an die gesetzlichen Vorgaben gehalten habe. Wie oft wäre es der "wahre Wille" eines Antragstellers gewesen, eine versäumte Frist einzuhalten!)
 

Lysios

*** KT-HERO ***
In der Rechtsprechung sehe ich nur Fälle, wo dieser Satz in der "Fachliteratur" (also bei Schulte) blind abgeschrieben und wiederholt wird, ohne dass er tatsächlich Anwendung findet. Man könnte mal untersuchen, wie dieser Satz (vermutlich bereits vor sechs Jahrzehnten) in den Schulte gelangt ist. Ich kann mir da nichts anderes vorstellen, als dass mal irgendeinem Einzelanmelder die Anmeldung "gerettet" werden sollte.
Nun, im Schulte bearbeitet Rainer Moufang seit der 8. Auflage von 2008 die entsprechenden Passagen. Diese habe ich tatsächlich noch selbst, ältere Auflagen aber schon vor Jahren entsorgt. Er ist laut seinem LinkedIn-Profil auch schon seit August 1998 Mitglied der EPA-Beschwerdekammern, also ein erfahrener Richter. Die Logik des Schulte ist generell, PatG und EPÜ gleich auszulegen, wenn es keine zwingenden Gründe für Abweichungen gibt. Art. 83 EPÜ und § 34 Abs. 4 PatG sind z.B. identisch, was hier gerade relevant ist. Und mindestens schon seit der 8. Auflage wird diese Auffassung von Moufang und damit auch im Schulte vertreten. Ob Schulte selbst diese Meinung in den Vorauflagen vertreten hat, kann ich daher ohne weitere Nachforschungen nicht sagen. Da solltest Du selbst entsprechende Bibliotheken bemühen.
 

VisaePatentes

Schreiber
Die Offenbarung des Anmeldungsgegenstands erfolgt in den Anmeldungsunterlagen, zu denen die Ansprüche, die Beschreibung und die Figuren gehören (§ 34 PatG). Weitere Unterlagen, die am AT eingereicht werden, bilden nicht Teil der Offenbarung. Hierzu gehören insbesondere die Prioritätsunterlagen. Selbst eine ausdrückliche Bezugnahme hilft da nicht.
Im Ausgangsfall gab es jedenfalls keine solche Kennzeichnung, da wurde einfach nur § 133 BGB aus der Sicht von Juristen angewandt und überstrapaziert. (Überstrapazieren des § 133 BGB bedeutet für mich: Es genügt, wenn ich einfach nur alles richtig machen will, dass ich so gestellt werde, als hätte ich es richtig gemacht, ohne dass ich mich tatsächlich an die gesetzlichen Vorgaben gehalten habe. Wie oft wäre es der "wahre Wille" eines Antragstellers gewesen, eine versäumte Frist einzuhalten!)
Es gibt kein stimmiges Bild ab, wenn man (triviale) Aussagen aus Beschlüssen abgewandelt zitiert, die nicht einmal explizit oder implizit vom PatG gedeckt sind, sich wenig später aber über angeblich überstrapazierte Auslegungen echauffiert.

§ 133 BGB hätte im zitierten Fall gar nicht bemüht werden müssen, denn es war m.E. eindeutig was gewollt war und dass bei dessen Umsetzung offensichtlich ein Fehler passiert ist. Insofern bedurfte es keiner Auslegung einer Willenserklärung.

§ 35 Abs. 2-3 PatG haben zum Zweck, eine unzulässige Erweiterung gemäß § 38 PatG zu verhindern, indem stets ein Zustand herbeigeführt wird, in dem der Anmeldetag grundsätzlich nicht älter ist als der Tag des Eingangs des jüngsten Offenbarungsteils. Die Inanspruchnahme einer Priorität ermöglicht aber genau das: einen älteren Anmeldetag als der Tag des Eingangs des jüngsten Offenbarungsteils. Denn selbst wenn die Anmelderin alle Unterlagen vollständig an einem Tag eingereicht hätte, wäre ein Zustand entstanden, bei dem aufgrund der Priorität ein älterer Anmeldetag gegolten hätte als der Tag des Eingangs des jüngsten Offenbarungsteils (alle Unterlagen vollständig) - was § 35 Abs. 2-3 PatG zuwider läuft. Insofern war es unpassend und kleinlich mit § 35 Abs. 2 PatG zu argumentieren.
Evtl. ist die Entscheidung des 1. Senats aber auch politisch motiviert, indem versucht wird, sich ein Stück dem Verfahren des EPA (Regel 56 Abs. 3 EPÜAO) anzunähern. Ich denke aber, es ist zum Scheitern verurteilt, wenn eine Praxis, die jeder DPMA-Prüfer (und auch jeder technische Richter im BPatG) seit Jahrzehnten ausübt, ohne Änderung der rechtlichen Grundlage verändert werden soll.
Ich denke, es handelt sich um eine glücklicherweise eher seltende Fallkonstellation in einem einseitigen Verfahren, die anmelderfreundlich mit einem vernünftigen Pragmatismus entschieden wurde, zu dem sich aktive und ehemalige DPMA-Prüfer selten trauen.
In jedem Fall hat der Anmelder in der 1 W (pat) 6/22 nichts von seinem Sieg, wenn er dauerhaft mit der Ungewissheit leben muss, ob dieser Bestand hat.
Da war schon immer so.
Egal wie überzeugend die Begründung des ersten (juristischen) Senats zu diesem "Ausnahmefall" sein mag: Hat diese Entscheidung Bindungswirkung für ein späteres Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren? Oder muss der Anmelder damit rechnen, dass das Patent, wenn es denn erteilt wird, im Einspruch wegen unzulässiger Erweiterung widerrufen wird, weil es diese Figuren enthält, die (dann nach Auffassung der Einspruchsabteilung bzw. eines technischen Senats) eben doch nicht zum Offenbarungsumfang gehören?
Auch wenn die BPatG-Präsidentin hier selbst beschlossen hat, gilt § 25 DRiG.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
... Insofern war es unpassend und kleinlich, mit § 35 Abs. 2 PatG zu argumentieren.
Da stimme ich voll zu. Mit § 35 (2) PatG konnte der Anmelder hier nichts gewinnen. Denn bei einer Verschiebung des Anmeldetages wäre das Priojahr bereits abgelaufen. Aber wegen der klaren Eindeutigkeit der Formulierung in § 35 konnten der Prüfer und auch 1. Senat wohl nicht umhin, dazu etwas zu schreiben.
Ich denke, es handelt sich um eine glücklicherweise eher seltende Fallkonstellation in einem einseitigen Verfahren, die anmelderfreundlich mit einem vernünftigen Pragmatismus entschieden wurde, zu dem sich aktive und ehemalige DPMA-Prüfer selten trauen.
Das wäre auch meine Vermutung. Jedoch bedauere ich das eher. Eine Rechtsprechung, die sich vom Gesetzestext löst, um im einseitigen Verfahren (wo sich niemand beschweren kann) "anmelderfreundlich" zu entscheiden, sägt an ihrer eigenen Autorität ("Barmherzigen Brüder"). Ähnliches gibt es bei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung.

Technische Richter sind in der Tat idR ehemalige DPMA-Prüfer. Aber auch für die gilt § 25 DRiG, auch sie können sich alles Mögliche "trauen". Aber sie haben wohl eher im Blick, dass es im DPMA einen klaren Betriebsablauf geben muss, in den nicht in kurzen Abständen durch die Rechtsprechung eingegriffen werden sollte. Juristen denken da wohl anders, denen ist die praktische Auswirkung ihrer Entscheidungen m.E. eher egal.
 
Zuletzt bearbeitet:

Hans35

*** KT-HERO ***
§ 35 Abs. 2-3 PatG haben zum Zweck, eine unzulässige Erweiterung gemäß § 38 PatG zu verhindern, indem stets ein Zustand herbeigeführt wird, in dem der Anmeldetag grundsätzlich nicht älter ist als der Tag des Eingangs des jüngsten Offenbarungsteils. Die Inanspruchnahme einer Priorität ermöglicht aber genau das: einen älteren Anmeldetag als der Tag des Eingangs des jüngsten Offenbarungsteils. Denn selbst wenn die Anmelderin alle Unterlagen vollständig an einem Tag eingereicht hätte, wäre ein Zustand entstanden, bei dem aufgrund der Priorität ein älterer Anmeldetag gegolten hätte als der Tag des Eingangs des jüngsten Offenbarungsteils (alle Unterlagen vollständig) - was § 35 Abs. 2-3 PatG zuwider läuft.
Vielleicht sollte hierzu einiges angemerkt werden:

Die Offenbarung der Erfindung in "Teilen" gibt es nicht. Wenn etwas als Patentanmeldung eingereicht wird, was dem Anschein nach die Offenbarung einer Erfindung umfasst, dann wird dieser Eingabe der Anmeldetag zugeordnet. Danach gibt es nur eine einzige Möglichkeit, diese Offenbarung zu ergänzen, indem nämlich die Anmeldung komplett neu eingereicht wird, also in der vervollständigten Fassung und ohne Bezugnahme auf die bisherige Anmeldung. Dieser neuen Anmeldung wird dann der neue (spätere) Anmeldetag zugeordnet, und fertig.

Eine ausdrückliche Ergänzung zur zuvor eingereichten (unvollständigen) Fassung der Anmeldung würde idR den Rahmen des § 38 PatG überschreiten und daher unzulässig sein. Über das Schicksal dieser Anmeldung mag der Anmelder entscheiden: IdR wird er sie fallen lassen.

§ 35 2-3 PatG bietet hierzu die Möglichkeit eines vereinfachten Verfahren mit identischer Wirkung, das aber ausdrücklich durch den Prüfer dem Anmelder angeboten werden muss: Voraussetzung dafür ist, dass es dem Prüfer auffällt, dass Zeichnungen oder Beschreibungsteile fehlen, auf die in der eingereichten Beschreibung Bezug genommen wird. Dann kann er dem Anmelder anbieten, entweder alles zu lassen, wie es ist (die Bezugnahme gilt dann als gestrichen), oder dass er so gestellt wird, als hätte er am Tag der Nachreichung des Fehlenden die Anmeldung komplett neu eingereicht. Dieses Verfahren wird dann als "Verschiebung des Anmeldetags" bezeichnet, ist in seiner Wirkung aber nichts anderes als die Einreichung der vervollständigten Anmeldung zu dem späteren Zeitpunkt, verbunden mit der Rücknahme der älteren, unvollständigen Anmeldung unter Beibehaltung des Aktenzeichens.

Mit der Inanspruchnahme einer Unions-Priorität hat das alles nichts zu tun, durch sie "gilt" kein älterer Anmeldetag. Vielmehr bleibt bei der Inanspruchnahme einer Priorität lediglich bei der Prüfung der Patentfähigkeit ggf. der SdT aus Prioritätsintervall unberücksichtigt, und die 18monatige Frist zur Offenlegung beginnt früher. Insbesondere stellt die beigefügte Prioschrift keinen Teil der Offenbarung der angemeldeten Erfindung dar, und auf die Laufzeit des Patents, auf Gebührenhöhe und -Fristen und auf alles andere hat die Inanspruchnahme einer Priorität keinerlei Auswirkungen.

Ein Problem, das im Ausgangsfall wohl entscheidend war, entsteht, wenn am Tag der möglichen Einreichung der vollständigen Anmeldung das Priojahr bereits abgelaufen ist. Auch die bloße Nachreichung der Zeichnung an diesem Tag im Rahmen des § 35 (2) PatG kann nichts retten, wenn der SdT aus dem Priointervall dann patenthindernd ist. (Das ist nicht anders als bei einer Anmeldung ohne Inanspruchnahme einer Priorität, wenn es SdT aus dem "Verschiebungsintervall" des § 35 (2) PatG gibt.)
 

Lysios

*** KT-HERO ***
§ 35 2-3 PatG bietet hierzu die Möglichkeit eines vereinfachten Verfahren mit identischer Wirkung, das aber ausdrücklich durch den Prüfer dem Anmelder angeboten werden muss:
Zumindest das DPMA hat da aber eine andere Auffassung dazu. Siehe Ziffer 1.1 Abs. 3 in den Prüfungsrichtlinien 2022:
Reicht der Anmelder auf eine Aufforderung nach § 35 Abs. 2 Satz 1 PatG oder auf eigene Initiative fehlende Zeichnungen oder fehlende Teile der Beschreibung nach, so wird der Tag des Eingangs der Zeichnungen oder der Teile der Beschreibung beim Deutschen Patent-und Markenamt zum Anmeldetag; andernfalls gilt jede Bezugnahme auf Zeichnungen oder die Teile der Beschreibung als nicht erfolgt (§ 35 Abs. 2, Abs. 3 PatG).
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Du meinst mit "anderer Auffassung" die "eigene Initiative"?

Das steht tatsächlich in den Prüfungsrichtlinien, aber das ist m.E. zumindest "contra lege", weil § 35 die "Aufforderung" durch den Prüfer zwingend vorschreibt. Ohne "Aufforderung" wird ja keine Frist in Gang gesetzt wird, und dass das Nachreichen unbefristet zulässig sein soll, wird von § 35 keinesfalls gedeckt.

Vermutlich soll hier nur toleriert werden, dass der Anmelder mit dem Nachreichen schneller war, als der Prüfer mit seiner Aufforderung, was insbesondere von Bedeutung ist, wenn der verschobene Anmeldetag noch innerhalb des Priojahres liegen soll.

Im Zweifelsfall würde ich mich da aber nicht auf die Prüfungsrichtlinien verlassen. Auch das ist m.E. mal wieder nur ein Fall der "Anmelderfreundlichkeit" als Vorstufte zur Willkür, weil das niemandem Rechtssicherheit gibt. (Denn da gibt es kein Recht auf Gleichbehandlung.) Bisher ist aber wohl noch kein Einsprechender darauf gekommen auszutesten, ob das Nachreichen der Zeichnung und damit das Verschieben des AT ohne Aufforderung unzulässig war und zu einer Verletzung von § 38 führt.
 
Zuletzt bearbeitet:

Lysios

*** KT-HERO ***
Das steht tatsächlich in den Prüfungsrichtlinien, aber das ist m.E. zumindest "contra lege", weil § 35 die "Aufforderung" durch den Prüfer zwingend vorschreibt. Ohne "Aufforderung" wird ja keine Frist in Gang gesetzt wird, und dass das Nachreichen unbefristet zulässig sein soll, wird von § 35 keinesfalls gedeckt.
Ich halte es da mit Benkard PatG/Schacht, 12. Aufl. 2023, PatG § 35 Rn. 25:
Andererseits kann auch der Fall eintreten, dass der Anmelder oder sein Vertreter bei einer Nachkontrolle feststellt, dass die eingereichten Unterlagen entgegen den Intentionen unvollständig sind, und diesen Fehler aus eigenem Antrieb (sua sponte) beheben. Gehen solche Zeichnungen beim DPMA mit eindeutigen Erklärungen etwa des Inhalts ein, dass der Anmeldetag auf den Tag des Eingangs dieser Dokumente verschoben werden soll, erübrigt sich ein förmliches Rügeverfahren. Das DPMA kann solchen Anträgen auch ohne eine ausdrückliche Rechtsgrundlage entsprechen.
Hilfreich ist trotzdem (a.a.O. Rn 27):
Da das deutsche Recht keine Regelung für den Fall der unaufgeforderten Nachreichung aufweist, bietet sich als Ersatz allenfalls eine dem § 35 Abs.2 S. 2 analoge Verfahrensweise an, also eine Mitteilung des DPMA unter Fristsetzung, um dem Anmelder eine eindeutige Klärung seines Willens und für das Amt eine eindeutige Klärung des Anmeldetages zu ermöglichen.

Siehe dazu nur oben bereits erwähnten BPatG Beschl. v. 23.5.2016 – 19 W (pat) 19/15:
Voraussetzung für eine Verschiebung des Anmeldetags auf den Tag des Eingangs nachgereichter Zeichnungen ist gemäß § 35 Absatz 2 Satz 1 PatG eine Aufforderung des Patentamts, die fehlenden Zeichnungen nachzureichen oder zu erklären, dass die Bezugnahme als nicht erfolgt gelten soll. Anerkannt ist hierbei, dass diese Aufforderung - wie vorliegend - auch noch erfolgen kann, wenn fehlende Zeichnungen bereits ohne eine solche Aufforderung nachgereicht worden sind, um dem Anmelder die Wahlmöglichkeit zu eröffnen (vgl. Schulte, PatG, 9. Aufl., 2014, § 35 Rdn. 57; Benkard, a. a. O., § 35 Rdn. 28).
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Hier kann ich Benkard nicht folgen, wonach sich ein förmliches Rügeverfahren "erübrigt". Wegweisend ist vielmehr die Entscheidung des 19. Senats 19 W (pat) 19/15.

Danach richtet sich jede eigenmächtige Änderung der Unterlagen durch den Anmelder nach § 38 PatG, d.h. sie darf den Anmeldungsgegenstand nicht erweitern, und eine Änderung des Anmeldetages auf Grund solcher Änderungen findet nicht statt.

§ 35 regelt hierzu eine Ausnahme, für die ausschlaggebend ist, dass dem Anmelder eine Aufforderung des DPMA, fehlende Zeichnungen nachzureichen, förmlich zugestellt wird, wodurch die einmonatige Frist des § 35 (2) beginnt. Diese Aufforderung kann allerdings in der Tat auch noch zu einem Zeitpunkt erfolgen, wenn die Zeichnungen bereits eingereicht sind.

Wo eine solche förmliche Zustellung fehlt, halte ich das Patent für angreifbar, wenn nämlich die nachgereichten Zeichnungen über die ursprüngliche Offenbarung (ohne die Zeichnungen) hinausgehen.
 

Lysios

*** KT-HERO ***
Dir ist schon bewußt, dass das die gleiche Entscheidung ist, auf die ich bereits in meinem letzten Post hingewiesen habe?

Hier hatte der Prüfer nämlich gerade das Verfahren nach § 35 Abs. 2 PatG direkt und nicht analog anwenden müssen, weil eben keine unaufgeforderte Nachreichung der Zeichnungen stattgefunden hatte, sondern diese nach Anmeldermeinung bereits ursprünglich eingereicht sein sollten, was aber weder Prüfer noch Beschwerdesenat so gesehen haben. Nur deshalb kam es auf die tatsächliche Zustellung überhaupt an.
 
Oben