EPÜ Poisonous Priority trotz Teilpriorität

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*** KT-HERO ***
Aus einem parallelen Diskussion im Forum wurde folgendes Beispiel im Hinblick auf die Teilpriorität formuliert:

Fall (I):

Prioanmeldung: A+B
Nachanmeldung: A

Liegt eine Teilpriorität vor?

Beispielswiese
Bei Niete + Schraube:
1. Prio Kombination aus Niete + Schraube
2. Prio Niete

Beim selbstfahrenden Fahrzeug
1. Prio
Selfahrendens Fahrzeug umfassend Motor

2. Prio Selbstafahrendes Fahrzeug

Für Fall I:
Nachanmeldung hat Teilpriorität für den Gegenstand A+B. Für den Gegenstand A ohne B nur den Anmeldetag.

Wenn der Nachanmeldung die Teilpriorität für den Gegenstand A+B zukommt und Für den Gegenstand A ohne B nur der Anmeldetag.

Wäre dann bei Veröffentlichung der Prioritätsanmeldung die Offenbarung A (aus A+B) nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand A ohne B, welchem nur der AT der Nachanmeldung zukommt.

Grundsätzlich ist doch eine Offenbarung A+B neuheitsschädlich für A.

Wenn alle Aspekte zutreffen, liegt doch bei publizierte Prioanmeldung weiterhin eine toxische Priorität vor oder nicht?
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Prioanmeldung: A+B
Nachanmeldung: A

Liegt eine Teilpriorität vor?
Nein. Bei der Teilpriorität geht es um alternativ beanspruchte Gegenstände oder Merkmale (in der Nachanmeldung), also "Brett mit Schraube oder Nagel, gekennzeichnet durch ...". Hier statt "oder" das Symbol "+" zu verwenden, führt eher zur Verwirrung. Offenbart die Prioanmeldung nur ein "Brett mit Schraube", so wird diese "Teilpriorität" in der Regel anerkannt und ein SdT "Brett mit Schraube" ist nur dann neuheitsschädlich, wenn er vor dem Priotag offenbart wurde; aber wenn das Dokument ein "Brett mit Nagel" offenbart, ist die (Teil-)Priorität unwirksam und es ist auch neuheitsschädlich, wenn es aus dem Prioritätsintervall stammt.

Weiteres Beispiel: Die Prioanmeldung offenbare als Merkmal, dass x zwischen 1 und 3 liegt, und im Anspruch der Nachanmeldung steht, dass x zwischen 1 und 5 liegen muss. x kann dann z.B. =2 oder =4 (oder noch anders entsprechend dem Anspruch) sein. Ein SdT mit x=2 ist nur dann neuheitsschädlich, wenn er vor dem Priotag offenbart wurde, aber mit x=4 ist die (Teil-)Priorität unwirksam.

Jedoch wird es Fälle geben, in denen die Abgrenzung nicht so klar ist, wie zwischen Schraube und Nagel (z.B. wenn in der Nachanmeldung ein breiterer Bereich einer mehr oder weniger diffusen Größe als für die Erfindung geeignet erkannt wird, z.B. beansprucht: "verschmutzt", aber in Prio nur offenbart: "stark verschmutzt" ). Wird dann die Teilpriorität deshalb nicht anerkannt, dann ist die Prioschrift ggf. "toxisch", d.h. sie ist selbst neuheitsschädlicher Stand der Technik.

Vor Schaffung des Begriffs "Teilpriorität" (irgendwann im vorigen Jahrhundert) wurde die Wirksamkeit der Priorität regelmäßig verneint, wenn der beanspruchte Gegenstand der Nachanmeldung in irgendeiner seiner (alternativen) Varianten nicht von der Prioritätsanmeldung umfasst war. Da musste man sich in der Nachanmeldung streng auf das beschränken, was die Prioanmeldung offenbart, was insbesondere bei Bereichsangaben zu Problemen führte.
 
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Hans35

*** KT-HERO ***
Ergänzung:

Bei der Teilpriorität - als Unterfall der Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten - geht es um den unterschiedlichen Zeitrang von nebeneinander beanspruchten Gegenständen. Dieser unterschiedliche Zeitrang kann nicht nur gegeben sein, wenn diese Gegenstände in nebengeordneten Ansprüchen beansprucht werden, sondern auch, wenn sie in demselben Anspruch zusammengefasst werden, insbesondere auch durch eine übergreifende Bereichsangabe. Dies, obwohl das PVÜ in diesem Zusammenhang den Begriff "Merkmale" (engl.: elements, frz.: éléments) anstatt "Gegenstände" oder "Ausführungsarten" verwendet.

Das wird insbesondere in der Entscheidung G 2/98 herausgearbeitet. Unter Nr. 4 der Entscheidungsgründe heißt es dort (Hervorhebung hinzugefügt):
Da nach Artikel 4 H PVÜ eine Erfindung, für die eine Priorität beansprucht wird, nicht in einem Patentanspruch der Anmeldung definiert sein muß, deren Priorität beansprucht wird (s. o.), stellt ein "Merkmal" im Sinne des Artikels 4 F PVÜ einen Gegenstand dar, der implizit oder explizit in den die Offenbarung betreffenden Anmeldungsunterlagen deutlich offenbart ist, insbesondere in Form eines Patentanspruchs oder in Form einer Ausführungsart oder eines Beispiels in der Beschreibung der Anmeldung, die eine oder mehrere Prioritäten beansprucht. Dies entspricht dem Zweck des Artikels 4 F PVÜ. Die Möglichkeit der Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten wurde in die PVÜ eingeführt, damit für Verbesserungen der ursprünglichen Erfindung nicht Zusatzpatente angemeldet werden mußten. Hieran wird deutlich, daß "Merkmal" nicht im Sinne eines Anspruchsmerkmals, sondern einer Ausführungsart verstanden wurde (Actes de la Conférence de Washington de 1911, Bern 1911, S. 45 f.).

Ein solcher zusammengefasster Anspruch ist dann neuheitsschädlich getroffen, wenn im Stand der Technik ein einziger der nebeneinander beanspruchten Gegenstände nachgewiesen wird, wobei der Zeitrang genau dieses Gegenstands (und nicht der von irgendwelchen Merkmalen) zu berücksichtigen ist.
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Nein. Bei der Teilpriorität geht es um alternativ beanspruchte Gegenstände oder Merkmale (in der Nachanmeldung), also "Brett mit Schraube oder Nagel, gekennzeichnet durch ...". Hier statt "oder" das Symbol "+" zu verwenden, führt eher zur Verwirrung. Offenbart die Prioanmeldung nur ein "Brett mit Schraube", so wird diese "Teilpriorität" in der Regel anerkannt und ein SdT "Brett mit Schraube" ist nur dann neuheitsschädlich, wenn er vor dem Priotag offenbart wurde; aber wenn das Dokument ein "Brett mit Nagel" offenbart, ist die (Teil-)Priorität unwirksam und es ist auch neuheitsschädlich, wenn es aus dem Prioritätsintervall stammt.

Hallo Hans35,

vielen Dank für deine Antwort.

Liegt tatsächlich im vorliegenden Fall keine Teilpriorität vor?

In besagter parallelen Diskussion wurde eine Teilpriorität festgestellt.

Nur um sicherzugehen: Hier geht es um A in der Nachanmeldung und A+B in der Prioanmeldung und nicht andersherum wie in G 2/98.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Wenn in der Nachanmeldung nur der Gegenstand A beansprucht wird und nichts, was neben A beansprucht wird, dann kann diesem Gegenstand auch nur ein einziger Zeitrang zugeordnet werden, und keine Teilpriorität. Wenn die Prioanmeldung ebenfalls den Gegenstand A offenbart, dann ist diese Priorität auch wirksam (sofern die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind). Dabei ist es egal, ob die Prio-Anmeldung zusätzlich noch Merkmale B in Kombination mit A offenbart (also den Gegenstand A+B), oder ob sie noch andere Gegenstände B zusätzlich zu A offenbart (also: A oder B). Wenn die Priorität (aus welchen Gründen auch immer) nicht anerkannt wird, kann die Prioanmeldung für den auf A gerichteten Anspruch neuheitsschädlich sein (falls die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind.

Dabei muss man sich aber genau darüber klar sein, was "Gegenstand" bzw. "Merkmal" bedeutet. Da gab es in der zitierten Diskussion wohl zumindest bei einigen Teilnehmern Unsicherheiten.

Evtl. gehst du davon aus, dass in der Nachanmeldung der Gegenstand A aufzuspalten ist in zwei Gegenstände "A mit B" und "A ohne B", denen dann ein unterschiedlicher Zeitrang zukommen könnte. Das ist aber im Rahmen der Beurteilung der Nachanmeldung schon deshalb nicht möglich, weil in dieser B (und erst Recht: "ohne B") gar nicht Anspruchsmerkmal ist und evtl. hier nicht einmal offenbart ist. Aber auch wenn B in einem Unteranspruch steht, macht das nichts für die Beurteilung des Hauptanspruchs. Die Neuheit kann ja nicht an Hand von Merkmalen beurteilt werden, die gar nicht im Anspruch stehen.

Das mag daher anders sein, wenn es in er Nachanmeldung explizit zwei nebengeordnete Ansprüche "A mit B" und "A ohne B" oder auch einen zusammengefassten Anspruch "A mit B oder ohne B" gibt, wobei also "ohne B" ein explizit offenbartes Merkmal der Nachanmeldung ist. Dadurch könnte man wohl die Priorität für "A ohne B" verlieren (zumindest, wenn sich aus der Prioanmeldung scheinbar ergibt, dass B so wichtig ist, dass A ohne B gar nicht funktioniert), aber so etwas habe ich in der Praxis noch nicht gesehen.
 
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newpatent

*** KT-HERO ***
Die Kriterien nach G1/15 EntG. 6.4 lauten wie folgt:

"6.4 Bei der Prüfung, ob einem Gegenstand innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs eine Teilpriorität zukommt, ist zunächst der im Prioritätsdokument offenbarte relevante Gegenstand zu bestimmen, d. h. der in Bezug auf den im Prioritätsintervall offenbarten Stand der Technik relevante Gegenstand. Dafür werden der in der Schlussfolgerung der Stellungnahme G 2/98 formulierte Offenbarungstest sowie die vom Anmelder bzw. Patentinhaber zur Stützung seines Prioritätsanspruchs vorgebrachten Erläuterungen herangezogen, um festzustellen, was der Fachmann dem Prioritätsdokument hätte entnehmen können. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob dieser Gegenstand von dem Anspruch der Anmeldung bzw. des Patents umfasst wird, für den die Priorität in Anspruch genommen wird. Lautet die Antwort ja, wird der Anspruch de facto konzeptionell in zwei Teile geteilt: der erste Teil entspricht der Erfindung, die im Prioritätsdokument unmittelbar und eindeutig offenbart worden ist, der zweite dem verbleibenden Teil des späteren generischen "ODER"-Anspruchs, dem diese Priorität nicht zusteht, der aber selbst ein Prioritätsrecht nach Art. 88 (3) EPÜ begründet."
Die Antwort auf die Frage lautet:
Das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), kann nach dem EPÜ nicht verweigert werden, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit –, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung.​

Fällt A+B nicht unter A?

Würde in einem Fall Spezielle Bremse + Auto (Prioanmeldung) und in der Nachanmeldung (spezielle Bremse), das spezielle Bremse + Auto nicht unter den Anspruch spezielle Bremse der Nachanmeldung fallen?
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Um die Diskussion auf ein festes Fundament zu stellen, hier eine Rechtgrundlage T 1519/15.

EntG 2.:

"
Claim 1 of the present application includes the generic expressions

"a sensing circuit comprising at least first and second sensing capacitors", and

"at least one mimicking capacitor".

Claim 1 does not specify whether there are any transistors. It thus encompasses the specific embodiment of Figs. 4 to 6 of document D3,...​
"

Das Argument der Prüfungsabteilung war (IV.):

"
....and held that claim 1 does not benefit from the priority date (Article 87(1) EPC) of P1 but only from the (later) priority date of P2, because the disclosure of P1 is limited to a specific circuit having four sensing capacitors, one mimicking capacitor and seven transistors. Since claim 1 of the present application generalises the number of sensing capacitors and omits the transistors, the subject-matter of claim 1 is not the same invention in the sense of Article 87(1) EPC.​
"

Claim 1 enthält nicht den Transistor. Dennoch wurde die Teilpriorität anerkannt.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Die Kriterien nach G1/15 EntG. 6.4 lauten wie folgt:

"6.4 Bei der Prüfung, ob einem Gegenstand innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs eine Teilpriorität zukommt, ist ...
Du zitierst selbst, dass für eine Teilpriorität (die bei dem zu beurteilenden Anspruch der Nachanmeldung Wirkung entfaltet) eine ODER-Verknüpfung zwei unterschiedliche Gegenstände generieren muss. Deshalb kann ich auf deine Frage nach wie vor nicht anderes antworten, als dass es nicht um eine Teilpriorität geht, wenn in der Nachanmeldung nur der "Gegenstand A" offenbart und beansprucht ist und nirgendwo "ODER" steht.

Solange nicht wirklich "A mit B ODER A ohne B" beansprucht wird und beides auch einzeln in der Nachanmeldung offenbart ist, sondern nur einfach A, hat das mit Teilpriorität nichts zu tun.
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Also, hat die BK in T 1519/15 falsch entschieden?

Es geht schließlich um die Auslegung der G 1/15. Allerdings geht die Eingangsfrage weiter.

In T 1519/15 scheint A1+B1+C in der Prionsmeldung offenbart worden zu sein und in der Nachanmeldung A+B.
Teilpriorität wurde anerkannt.
Aufteilung in A+B ohne A1+B1+C (AT der Nachanmeldung) und A1+B1+C ( Priotag).

Sollte A1+B1 aus A1+B1+C nicht neuheitsschädlich für A+B ohne A1+B1+C sein?
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Also, hat die BK in T 1519/15 falsch entschieden?

Es geht schließlich um die Auslegung der G 1/15. Allerdings geht die Eingangsfrage weiter.

In T 1519/15 scheint A1+B1+C in der Prionsmeldung offenbart worden zu sein und in der Nachanmeldung A+B.
Teilpriorität wurde anerkannt.
Aufteilung in A+B ohne A1+B1+C (AT der Nachanmeldung) und A1+B1+C ( Priotag).
So weit richtig!

Sollte A1+B1 aus A1+B1+C nicht neuheitsschädlich für A+B ohne A1+B1+C sein?

"A1+B1+C" kann nicht neuheitsschädlich sein für "A+B ohne A1+B1+C". A1+B1+C ist genau das, was der Anspruchsumfang, der keine Prio hat, nicht umfasst.

Zur Verdeutlichung: "Roter Ball" ist nicht neuheitsschädlich für "Farbige Objekte mit Ausnahme roter Bälle".
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Hallo Asdevi,

vielen Dank für deine Antwort!

Das würde bedeuten, dass nur ein "roter Ball" offenbart ist und kein Ball.

Falls (ohne Prio) eine 1.Anmeldung "roter Ball" offenbart und eine 2. Anmeldung Ball beansprucht, dann wäre roter Ball nur neuheitsschädlich für Ball, da es unter den Anspruch fällt. Korrekt?
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Vielleicht mal ein konkreteres Beispiel:

Jemand erfindet eine chemische Reaktion, die er dadurch beschreibt, dass er dafür "destilliertes Wasser" einsetzt und meldet diese zum Patent an. Das ist unsere Prioanmeldung.

In der Nachanmeldung offenbart und beansprucht er als Reaktionspartner "Wasser", von "destilliert" ist keine Rede mehr. Dem mag eine Nachlässigkeit zu Grunde liegen, oder Überlegungen zum Schutzbereich, oder auch die (nachträgliche?) Erkenntnis, dass der Kalkgehalt im Leitungswasser die Reaktion nicht stört.

Wenn nun zu dieser Erfindung ein Stand der Technik aus der Priointervall auftaucht, der ebenfalls einfach "Wasser" offenbart, ist dann die Priorität wirksam?

Ich denke ja. Anders ist es nur, wenn die Frage des Kalkgehalts in der Nachanmeldung ausdrücklich problematisiert wird, so eine Aufteilung des Anspruchsgegenstand in einen mit Verwendung von destilliertem Wasser und einen mit kalkhaltigem Wasser gerechtfertigt ist. In der Prionanmeldung steht ja - selbstverständlich - nicht, dass die Erfindung nur mit destilliertem Wasser funktioniert. Wenn Worte wie "destilliert" oder "Kalk" in der Nachanmeldung dann gar nicht vorkommen, ist das kein Fall einer Teilpriorität, und die Prio ist m.E. voll wirksam.
 
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Asdevi

*** KT-HERO ***
Hallo Asdevi,

vielen Dank für deine Antwort!

Das würde bedeuten, dass nur ein "roter Ball" offenbart ist und kein Ball.

Falls (ohne Prio) eine 1.Anmeldung "roter Ball" offenbart und eine 2. Anmeldung Ball beansprucht, dann wäre roter Ball nur neuheitsschädlich für Ball, da es unter den Anspruch fällt. Korrekt?

"Roter Ball" ist natürlich neuheitsschädlich für "Ball".

Der Witz ist aber, dass im Fall einer Teilpriorität die Prioanmeldung kein Stand der Technik für den Gegenstand "Ball" ist.

Prio: Roter Ball
Nachanmeldung: Ball

Die Nachanmeldung hat eine gültige Prio für den Gegenstand "Roter Ball" und keine Prio für den Gegenstand "Ball mit anderer Farbe als rot".

In den "poisonous priority" Fällen ist nun die Offenbarung der Prio S.d.T. unter Art. 54(3) für den Gegenstand der Nachanmeldung, der keine Prio genießt. Aber welcher Gegenstand ist das? Es ist nicht "Ball", auch wenn der Anspruch der Nachanmeldung nur "Ball" sagt. Sondern der Gegenstand, der keine Prio genießt, ist "Ball mit anderer Farbe als rot". Ist "Roter Ball" neuheitsschädlich für "Ball mit anderer Farbe als rot"? Natürlich nicht. Also kein Problem!
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Wenn nun zu dieser Erfindung ein Stand der Technik aus der Priointervall auftaucht, der ebenfalls einfach "Wasser" offenbart, ist dann die Priorität wirksam?

Die Frage, ob die Priorität wirksam ist, ist völlig unabhängig von der Frage, ob Stand der Technik im Priointervall auftaucht. Die Priorität ist von vornherein wirksam, für den Gegenstand der Reaktion mit destilliertem Wasser.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Die Priorität ist von vornherein wirksam, für den Gegenstand der Reaktion mit destilliertem Wasser.
Wenn also der Anmelder in der Prioanmeldung geschrieben hätte, dass er für seine Versuche "einfaches Brunnenwasser" verwendet hat, dann gilt die Priorität nur für "einfaches Brunnenwasser"?

Oder wenn er (vielleicht um die Reaktion zu beobachten) "rot eingefärbtes Wasser" benutzt hätte, dann gilt die Priorität nur für rot eingefärbtes Wasser?

Dann würde die Priorität letztlich nur noch funktionieren, wenn Prioanmeldung und Nachanmeldung völlig wortgleich sind.

Im Gegenteil:

Ein in der Beschreibung offenbartes Merkmal zur Formulierung des Anspruchs weglassen ("destilliert" oder auch "rot eingefärbt") führt im Rahmen des Prüfungsverfahrens idR nicht zu einer unzulässigen Erweiterung, denn der Anspruch muss nicht alle Merkmale des Ausführungsbeispiels nennen. Es sei denn, aus der Offenbarung der Anmeldung geht zweifelsfrei zwingend hervor, dass das fragliche Merkmal für die Erfindung wesentlich ist.

Und für die Frage der Wirksamkeit der Priorität gelten für den Vergleich des Anspruch der Nachanmeldung mit der Offenbarung der Prioanmeldung dieselben Kriterien.

Dass das Wasser zwingend destilliert sein muss, steht aber in der Prioanmeldung nicht. Kann es auch garnicht, sonst wäre die Nachanmeldung (mit jeglichem Wasser) gar nicht ausführbar.
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Im Gegenteil:

Ein in der Beschreibung offenbartes Merkmal zur Formulierung des Anspruchs weglassen ("destilliert" oder auch "rot eingefärbt") führt im Rahmen des Prüfungsverfahrens idR nicht zu einer unzulässigen Erweiterung, denn der Anspruch muss nicht alle Merkmale des Ausführungsbeispiels nennen. Es sei denn, aus der Offenbarung der Anmeldung geht zweifelsfrei zwingend hervor, dass das fragliche Merkmal für die Erfindung wesentlich ist.

Sag mal, Hans, bearbeitest du eigentlich regelmäßig Akten? Die Basis für eine Anspruchsänderung aus einem Beispiel herzuleiten, ist so ziemlich das schwierigste Kunststück, das man vor dem EPA vollbringen kann. Insbesondere wenn das Merkmal, das man haben will ("Wasser"), nicht einmal im Beispiel steht, sondern man gerne eine Verallgemeinerung des Offenbarungsgehalts des Beispielmerkmals ("rot gefärbtes Brunnenwasser") hätte. Ich wünsche viel Freude dabei, das einem Prüfer zu verkaufen!

Also ja: Wenn die Prioanmeldung keine allgemeinen Passagen enthält, sondern lediglich aus einem Beispiel besteht, das rot gefärbtes Brunnenwasser verwendet, wirst du nur für genau das eine Prio zuerkannt bekommen, und für nichts sonst. Dem Prio-Anmelder stand es frei, in seine Prio-Anmeldung zu schreiben, dass das mit Wasser allgemein geht, wenn er diese Erkenntnis damals schon hatte. Wenn er sie nicht hatte, sondern erst später darauf kam, erhält er die Prio für "Wasser" zu Recht nicht, denn damit würde er eine spätere Erkenntnis mit einem früheren relevanten Datum patentieren dürfen. Wenn er sie bereits damals hatte, aber es vorgezogen hat, das nicht schriftlich niederzulegen, ist das sein Problem.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
@Asdevi
Dann war in meinem Beispiel wohl ein Knoten.

Selbstverständlich muss der beanspruchte Gegenstand in der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart sein. Wenn "Wasser" beansprucht wird, muss auch "Wasser" offenbart sein, also hier, dass neben destilliertem Wasser auch anderes Wasser für die Reaktion geeignet ist. "Destilliert" ist dann ein Merkmal eines (des vielleicht einzigen) Ausführungsbeispiels, und der Anmelder kann (durch Aufnahme in den Anspruch) noch nach dem Anmeldetag bestimmen, ob dieses Merkmal für seine Erfindung wesentlich ist, sofern aus der Offenbarung nichts anderes hervorgeht. Nur so sind Änderungen der Ansprüche überhaupt möglich; auf damit verbundene Schutzbereichsänderungen braucht er erst nach der Patenterteilung zu achten.

Entsprechendes gilt bei der Inanspruchnahme einer Priorität für die Offenbarung in der Prio-Anmeldung.

Liegt im Beispielfall keine Offenbarung von "Wasser" allgemein in der Prioanmeldung vor, so kann der Anmelder sich trotzdem nicht auf eine Teilpriorität für "destilliertes Wasser" herausreden, wenn es in der Nachanmeldung kein "generisches ODER" gibt, sondern die Priorität ist insgesamt unwirksam. Für die Teilpriorität müsste die Nachanmeldung die unterschiedliche Gegenstände, die unterschiedliche Priorität genießen, gesondert offenbaren. In dem Beispiel ginge das nur, wenn auch in der Beschreibung der Nachanmeldung wenigstens irgendwo von "destilliert" oder vielleicht von "Kalk" die Rede ist und so der jeweilige Teilgegenstand als solcher einzeln erkennbar ist.

Ist die Priorität aber (insgesamt) unwirksam, dann kann die Prioritätsanmeldung tatsächlich "toxisch" werden, denn das dort offenbarte Ausführungsbeispiel mit destilliertem Wasser kann zweifellos für die Nachanmeldung neuheitsschädlich sein.
 
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*** KT-HERO ***
@Asdevi
Dann war in meinem Beispiel wohl ein Knoten.

Selbstverständlich muss der beanspruchte Gegenstand in der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart sein. Wenn "Wasser" beansprucht wird, muss auch "Wasser" offenbart sein, also hier, dass neben destilliertem Wasser auch anderes Wasser für die Reaktion geeignet ist. "Destilliert" ist dann ein Merkmal eines (des vielleicht einzigen) Ausführungsbeispiels, und der Anmelder kann (durch Aufnahme in den Anspruch) noch nach dem Anmeldetag bestimmen, ob dieses Merkmal für seine Erfindung wesentlich ist, sofern aus der Offenbarung nichts anderes hervorgeht. Nur so sind Änderungen der Ansprüche überhaupt möglich; auf damit verbundene Schutzbereichsänderungen braucht er erst nach der Patenterteilung zu achten.

Entsprechendes gilt bei der Inanspruchnahme einer Priorität für die Offenbarung in der Prio-Anmeldung.

Liegt im Beispielfall keine Offenbarung von "Wasser" allgemein in der Prioanmeldung vor, so kann der Anmelder sich trotzdem nicht auf eine Teilpriorität für "destilliertes Wasser" herausreden, wenn es in der Nachanmeldung kein "generisches ODER" gibt, sondern die Priorität ist insgesamt unwirksam. Für die Teilpriorität müsste die Nachanmeldung die unterschiedliche Gegenstände, die unterschiedliche Priorität genießen, gesondert offenbaren. In dem Beispiel ginge das nur, wenn auch in der Beschreibung der Nachanmeldung wenigstens irgendwo von "destilliert" oder vielleicht von "Kalk" die Rede ist und so der jeweilige Teilgegenstand als solcher einzeln erkennbar ist.

Ist die Priorität aber (insgesamt) unwirksam, dann kann die Prioritätsanmeldung tatsächlich "toxisch" werden, denn das dort offenbarte Ausführungsbeispiel mit destilliertem Wasser kann zweifellos für die Nachanmeldung neuheitsschädlich sein.

Also in G 1/15 ist eine Definition für "generischer ODER" zu finden und demnach muss nirgendwo in der Prioanmeldung "Wasser" alleine offenbart sein damit "destilliertes Wasser" in der Nachanmeldung gerichtet auf "Wasser" eine Teilpriorität für "destilliertes Wasser" erhält.

Bestätigt wird dies durch T 1519/15.
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
@Asdevi
Liegt im Beispielfall keine Offenbarung von "Wasser" allgemein in der Prioanmeldung vor, so kann der Anmelder sich trotzdem nicht auf eine Teilpriorität für "destilliertes Wasser" herausreden, wenn es in der Nachanmeldung kein "generisches ODER" gibt, sondern die Priorität ist insgesamt unwirksam. Für die Teilpriorität müsste die Nachanmeldung die unterschiedliche Gegenstände, die unterschiedliche Priorität genießen, gesondert offenbaren.
Nein, eben nicht. "Generisches ODER" bedeutet gerade, dass es keine explizite Offenbarung der Alternativen gibt. Das ist ja die grundlegende Bedeutung von G1/15!

Wenn explizit Alternativen aufgeführt sind, war es schon vorher akzeptiert, dass sie unterschiedliche Prioritätstage haben können. Seit G1/15 geht das auch, wenn die Alternativen in der Nachanmeldung nicht explizit offenbart sind, sondern nur in den Anspruchsumfang fallen.
 
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