Ja, man kann das Beispiel beliebig weiterspinnen und z.B. statt eines komplett anderen Begriffs ein Aliud mit teilweiser Überlappung des Schutzbereichs in P2 vorsehen. Dazu gibt es ja dann allerlei Ansichten, was die Gültigkeit der Priorität angeht ("Schirmtheorie" ist ein Schlagwort, das ich noch im lückenhaften Gedächtnis habe). Nach klassischer EPA-Lesart wäre die Prioinanspruchnahme auch bei einem solchen Aliud wohl vollständig gescheitert, in anderen Ländern könnte man die Prio für den überlappenden Bereich zuerkennen, was aber zu einem eventuell ebenso wenig lösbaren Disclaimer-Problem führen könnte. Generell sollte man immer im Kopf behalten, dass im Regelfall andere Rechtssysteme über die Gültigkeit der Priorität entscheiden werden. Und wer kann schon sagen, was eine Jury in Texas zu der Frage der Gültigkeit der Priorität entscheiden wird, wenn eine Nazi-Firma aus Old-Europe ein aus einer derartigen Nachanmeldung hervorgegangenes US-Patent gegen eine rechtschaffende amerikanische Firma durchsetzen will?
Bei meinem Modellfall handelt es sich um eine wenig praxisrelevante Fallkonstellation, aber man kann schon darüber nachdenken, ob die Erteilung der P1 nicht anmelderseitig bis nach Ablauf des Priojahres herausgezögert werden sollte. Allerdings müsste dann auch jede andere Veröffentlichung im Priojahr unterbleiben, was beispielsweise im wissenschaftlichen Betrieb auf wenig Enthusiasmus stoßen dürfte. Bliebe nur die einfachste Lösung, nämlich darauf zu achten, dass die P2 auch die ursprüngliche Formulierung/Begriffswahl der P1 aufweist.
Vorweg: Die Veröffentlichung sollte
immer erst nach Ablauf des Priojahres erfolgen und im Zweifelsfall auch herausgezögert werden. Hintergrund sind eher nicht unzulässige Erweiterungen, die dann entgegenstehen. Viel schlimmer ist, dass man sich für nicht von der Prio gedeckte Gegenstände bei der Nachnameldung das veröffentlichte Dokument der ursprünglichen Anmeldung als SdT für die erfinderische Tätigkeit gefallenlassen muss, siehe folgender Fall:
Nehmen wir an, wir haben eine erste Anmeldung DE1 mit dem Gegenstand A+B, die erteilt wird. Anschließend (nach Erteilung und Veröffentlichung der DE1) machen wir eine Nachanmeldung DE2 mit A+B+C als Gegenstand, wobei DE1 C nicht in Kombination mit A+B offenbart, d.h. A+B+C hat keine Prio der DE1.
Nun kommt ein böser Konkurrent an und Klagt auf Nichtigkeit der DE1 und macht zur DE2 eine Eingabe, in der er den Prüfer auf die mangelnde erfinderische Tätigkeit hinweist. Der Konkurrent hat folgenden Stand der Technik:
Ein Dokument mit Merkmal A
Ein Dokument mit Merkmal B, was der Fachmann auf das Dokument mit A übertragen würde
Ein Dokument mit Merkmal C, was der Fachmann auf die DE1 übertragen würde.
Wäre die DE1 nicht veröffentlicht, bevor die DE2 angemeldet worden wäre, würde nur die DE1 sterben. A+B+C hätte aus 3 Druckschriften zusammengesetzt werden müssen und wäre somit (solang alle Merkmale wechselwirken) erfinderisch.
Durch die Veröffentlichung der DE1 würde der Fachmann jedoch eine Kombination der Druckschrift mit dem Merkmal C und der DE1 vornehmen. Die entsprechenden Dokumente lagen alle am AT der DE2 vor, wobei deren Gegenstand nicht von der Prio gedeckt ist. Somit wird A+B+C durch die veröffentlichte DE1 naheliegend.
Daher: Niemals vor dem Priojahr erteilen/veröffentlichen lassen. Auch beim Gebrauchsmustern zu beachten!
Vor dem Urteil der Jury in Texas hätte ich in Sachen gültigkeit der Prio jetzt nicht so Angst, denn wir wissen wie ...großzügig... in US die Offenbarung beurteilt wird. Ich habe es noch nie hinbekommen, vom US Prüfer einen wegen unzulässiger Erweiterung drauf zu kriegen, und dafür muss man auch dinge tun, bei denen sich einen als Europäer der Magen rumdreht.
Kritischer ist folgende Situation:
Ein US-Mandant gibt einem Weisung, für eine PCT eine Regionale Phase EP einzuleiten und hierbei geänderte Ansprüche einzureichen. Diese geänderten Ansprüche wurden vorher noch nicht offenbart. Ihr gegenstand ist (wie so häufig) der PCT nicht zu entnehmen.
Nehmen wir mal an, der Gegenstand der geänderten Ansprüche wäre nach europäischen Maßstäben gegenüber der PCT nicht nur neu (sprich gegenüber dieser eine unzulässige Erweiterung) sondern sogar erfinderisch. Dies kann durchaus vorkommen. US Mandanten schlagen gerne mal komplett neue Anspruchssätze für die regionale Phase vor, die durchaus mal speziellere Gegenstände betreffen als Offenbart. In diesem Fall würde der Gegenstand der Geänderten Ansprüche erst durch deren Einreichung als Reaktion auf die Mitteilung nach R161(1) veröffentlicht. Ohne die Einreichung der geänderten Ansprüche hätte man eine auf den entsprechenden Gegenstand gerichtete neue Anmeldung einreichen können und damit - wenn man die erfinderische Tätigkeit begründet bekommt - vieleicht sogar ein Patent erzielt.
Nun jedoch wird eine neue Anmeldung durch die Eingabe zur Erwiderung auf R161(1) verhindert.