Ich bin auch der Meinung, dass die spätere Anmeldung, die unter Bezugnahme auf die frühere eingereicht wurde, die erste Hinterlegung i.S.d. Art. 87 (4) EPÜ sein müßte, wenn die frühere zum Zeitpunkt der Bezugnahme völlig untergegangen war. Meines Erachtens ergibt sich dies unter anderem auch aus folgender Überlegung:
Wenn ich die spätere Anmeldung im Volltext einreiche (also eine Abschrift der früheren Anmedung), ohne auf die frühere Bezug zu nehmen, dann greift Art. 87 (4) EPÜ in jedem Fall (natürlich vorausgesetzt, die sonstigen Bedingungen sind erfüllt). Nun soll die neue Bezugnahmeregelung das lediglich Einreichen vereinfachen, also z.B. die Notwendigkeit einer Übersetzung zum Anmeldetag entbehrlich machen. Wenn ich aber in dem diskutierten Fall unter Nutzung der Bezugnahme einreiche, wäre der Anmelder, der die Bezugnahme nutzt, ohne wirklich erkennbaren Grund schlechter gestellt als der Anmelder, der eine Abschrift einreicht.
Auf der Kammerversammlung habe ich diese Fragen im Übrigen auch den zum EPÜ 2000 vortragenden hohen Herren vom EPA gestellt. Die waren zu meiner Überraschung genau der gegenteiligen Meinung (allerdings mit dem Zusatz, dass sie es auch nicht 100%ig wüßten). Sie sagten, dass Sinn und Zweck des Art. 87 (4) EPÜ eigentlich sei, dass nur dann ein neues Priorecht entstehen kann, wenn die erste Anmeldung und sämtliche durch sie begründeten Rechte ein für allemal und unwiederbringlich in der Versenkung verschwunden seien, ohne das jemals jemand von der Existenz dieser Hinterlegung erfahren kann. Wenn ein Anmelder diese Anmeldung aber nutzt, um unter Bezugnahme auf die Anmeldung eine neue einzureichen, dann ist es quasi sein Wille, dass diese Anmeldung aus der Versenkung wieder auftaucht. Damit nutzt er ein Recht, das diese Anmeldung für ihn mit ihrer Hinterlegung generiert hat, nämlich das Recht, unter Bezugnahme auf diese Anmeldung eine neue einzureichen, mit der Folge, dass ein neues Priorecht durch die spätere Anmeldung nicht entstehen kann. Welcher Meinung nun zu folgen ist, lasse ich mal offen. Ich weiß es letztlich nicht. Für mich heißt das Ganze in der Konsequenz: Die Bezugnahme nutze ich nur, wenn es nicht mehr anders geht, also im absoluten Notfall.
Im Übrigen soll die "Bezugnahmemöglichkeit" die Anmeldung insbesondere für Ausländer vereinfachen. Der Japaner kann nun einen Anmeldetag bekommen, in dem er nur ein Fax mit dem Inhalt schickt: Ich will eine neue EP-Anmeldung mit dem Inhalt der japanischen Anmeldung XY, eingereicht an Datum Z (Die sonstigen Anforderungen an den Anmeldetag, die gegenüber EPÜ 1973 deutlich gelockert wurden, müssen natürlich erfüllt sein). Gleiches gilt auch für uns als Vertreter eines solchen Anmelders. Das reicht dann erst mal. Übersetzung, Text, Beschreibung, Priobeanspruchung etc. können nachgereicht werden. Der Japaner kann dieses Fax nach der neuen Sprachenregelung sogar auch auf japanisch senden.