EPÜ Amtsermittlung nicht geltend gemachte Einspruchsgründe

newpatent

*** KT-HERO ***
Hallo,

zur Amtsermittlung nach Art. 114(1) und R. 81(1) zu nicht geltend gemachten Einspruchsgründen im Verhältnis zu G 10/91 scheint ein Widerspruch zu bestehen.

G 10/91 bezieht sich auf das EPÜ1973.

Regel 81 (1) Satz 2 ist mit dem EPÜ2000 hinzugekommen:

"Sie kann von Amts wegen auch vom Einsprechenden nicht geltend gemachte Einspruchsgründe prüfen, wenn diese der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen würden."

Nichtsdestotrotz scheint für die Prüfung von nicht geltend gemachte Einspruchsgründen die Prima facie Relevanz nach G 10/91 eine wesentliche Rolle zu spielen.

Wieso ist das so?

Was bedeutet überhaupt prima facie Relevanz in diesem Zusammenhang?
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Regel 81 (1) S.2:

"Sie kann von Amts wegen auch vom Einsprechenden nicht geltend gemachte Einspruchsgründe prüfen, wenn diese der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen würden."

Was bedeutet überhaupt prima facie Relevanz in diesem Zusammenhang?
Es geht um die Ermessensausübung bei dieser Kann-Bestimmung. Dabei bedeutet "nicht vorgebracht" im Wesentlichen "nicht fristgemäß vorgebracht". Denn die Einspruchsabteilung wird ja kaum aus eigener Initiative zusätzlich recherchieren.

Diese Ermessensausübung soll nach meinem Verständnis letztlich so erfolgen, dass das Verfahren möglichst einfach abgewickelt werden kann, ohne dass darunter die "Richtigkeit" der Entscheidung leidet.

Grundsätzlich muss immer erst das fristgerecht vorgebachte Material beurteilt werden, und nach Möglichkeit soll das Verfahren damit sein Bewenden haben.

Wenn dieses Material zieht, dann braucht daher das verspätet vorgebrachte Material nicht mehr berücksichtigt und insbesondere nicht in der Beschlussbegründung abgehandelt werden. Egal ob es sogar viel besser zieht oder doch nur belanglos ist: Das Patent wird jedenfalls widerrufen, jeder kann nur einen Tod sterben.

Wenn das fristgemäße Material nicht zieht, dann muss das verspätet vorgebrachte Material jedenfalls in Augenschein genommen werden. Aber auch dann genügt ggf. im Beschluss der Hinweis, das dieses nicht weiter relevant ist und deshalb ebenfalls nicht zum Widerruf führt.

Nur wenn einzig das verspätete Material so relevant erscheint, dass es zum Widerruf führen kann (und sich vielleicht erst nach eingehender Betrachtung herausstellt, dass das doch nicht der Fall ist), dann wird es voll in das Verfahren eingeführt und der Beschluss wird sich auf dieses Material stützen.

"Material" sind dabei nicht nur Druckschriften zum Stand der Technik, sondern z.B. auch Art. 123-Einwendungen u.ä.
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Hallo Hans 35,

vielen Dank für die Antwort.

Die Kann-Vorschrift würde einer Einspruchsabteilung die freie Möglichkeit eröffnen, welches weder durch die G-Entscheidung noch durch eine Richtlinie beschränkt werden dürfte, da die EPÜ-Regel vorgeht.
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Es geht um die Ermessensausübung bei dieser Kann-Bestimmung. Dabei bedeutet "nicht vorgebracht" im Wesentlichen "nicht fristgemäß vorgebracht". Denn die Einspruchsabteilung wird ja kaum aus eigener Initiative zusätzlich recherchieren.

Ich habe auch schon erlebt, dass die Einspruchsabteilung in der vorläufigen Meinung ganz aus eigenem Antrieb Art. 123(2) auf den Tisch gelegt hat, obwohl der Einsprechende kein Wort darüber verloren hatte. Kann passieren.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
In jedem Berufsstand gibt es wohl ein paar Übereifrige ...

Vermutlich hatte aber zumindest ein Mitglied der Einspruchsabteilung in einer anderen Sache die "passende" Schrift auf dem Tisch gehabt. Für den Patentinhaber ist das dann Pech - - - oder Glück, weil ihm dadurch vielleicht ein Nichtigkeitsverfahren erspart bleibt.
 

newpatent

*** KT-HERO ***
In jedem Berufsstand gibt es wohl ein paar Übereifrige ...

Vermutlich hatte aber zumindest ein Mitglied der Einspruchsabteilung in einer anderen Sache die "passende" Schrift auf dem Tisch gehabt. Für den Patentinhaber ist das dann Pech - - - oder Glück, weil ihm dadurch vielleicht ein Nichtigkeitsverfahren erspart bleibt.

Ich würde gerne darauf hinweisen, dass der von Asdevi eingebrachte Fall sich auf A123(2) bezieht und es damit nicht unbedingt auf eine weitere passende Schrift ankommt, wenn sich die unzulässige Erweiterung aus dem angegriffenen Patent selbst ergibt.
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Ich habe auch schon erlebt, dass die Einspruchsabteilung in der vorläufigen Meinung ganz aus eigenem Antrieb Art. 123(2) auf den Tisch gelegt hat, obwohl der Einsprechende kein Wort darüber verloren hatte. Kann passieren.

Hallo Asdevi,

wie siehst du das Verhältnis zwischen R81(1) und G10/91 und der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der G 10/91 noch EPÜ1973 gültig war und im EPÜ1973 der neue Passus nicht enthalten war?
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Hallo Asdevi,

wie siehst du das Verhältnis zwischen R81(1) und G10/91 und der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der G 10/91 noch EPÜ1973 gültig war und im EPÜ1973 der neue Passus nicht enthalten war?

Ich denke, dass R. 81(1) die G10/91 auf ein sichereres Fundament stellen sollte.

Die G10/91 handelt ja von Art. 114, der festlegt, dass das EPA die Tatsachen von sich aus ermitteln soll. G10/91 hat aus dem "soll" im Wesentlichen ein "kann" gemacht. Man könnte nun durchaus argumentieren, dass sich aus dem Wortlaut Art. 114 eine Pflicht des EPAs ergibt, immer alle Einspruchsgründe zu prüfen, egal was der Einsprechende vorbringt.

Dass die Beschwerdekammermitglieder eine solche Pflicht nicht gern sähen, dürfte aus Arbeitsvermeidungsgründen einleuchten. Deshalb haben sie aus dem "soll" ja "kann" gemacht. Das kam dem EPA selbst aber wohl ein bisschen wacklig vor, weshalb man sich Mühe gegeben hat, es nochmals in einer neuen Regel "klarzustellen". Natürlich kann die Regel Pflichten aus einem Artikel nicht aufheben, aber da die Beschwerdekammern ja praktischerweise selbst darüber entscheiden dürfen, was ihre Pflichten sind, ist kaum damit zu rechnen, dass irgendeine Entscheidung von der Regel abweichen wird.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Ich würde gerne darauf hinweisen, dass der von Asdevi eingebrachte Fall sich auf A123(2) bezieht ...
Stimmt.

Das ist dann wohl eher der Fall, wo der Patentinhaber geänderte Ansprüche als Hilfsantrag stellt, so dass die Patentabteilung deren Zulässigkeit prüfen muss und sich dafür zwangsläufig damit befassen muss, was in den ursprünglichen Unterlagen offenbart ist. Der Hilfsantrag kann ja kaum als unzulässig zurückgewiesen werden, wenn dasselbe fragliche Merkmal bereits in den erteilten Ansprüchen steht, ohne dass auch diese Ansprüche nach 123(2) beanstandet werden.
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Stimmt.

Das ist dann wohl eher der Fall, wo der Patentinhaber geänderte Ansprüche als Hilfsantrag stellt, so dass die Patentabteilung deren Zulässigkeit prüfen muss und sich dafür zwangsläufig damit befassen muss, was in den ursprünglichen Unterlagen offenbart ist. Der Hilfsantrag kann ja kaum als unzulässig zurückgewiesen werden, wenn dasselbe fragliche Merkmal bereits in den erteilten Ansprüchen steht, ohne dass auch diese Ansprüche nach 123(2) beanstandet werden.

Nein. Es ging um die erteilten Ansprüche. Einem Adlerauge der Einspruchsabteilung war ein Rückbezug in einem abhängigen Anspruch aufgefallen, der angeblich zu unzulässiger Erweiterung führte. Dem Einsprechenden war dieser entgangen.
 

newpatent

*** KT-HERO ***
Ich denke, dass R. 81(1) die G10/91 auf ein sichereres Fundament stellen sollte.

Die G10/91 handelt ja von Art. 114, der festlegt, dass das EPA die Tatsachen von sich aus ermitteln soll. G10/91 hat aus dem "soll" im Wesentlichen ein "kann" gemacht. Man könnte nun durchaus argumentieren, dass sich aus dem Wortlaut Art. 114 eine Pflicht des EPAs ergibt, immer alle Einspruchsgründe zu prüfen, egal was der Einsprechende vorbringt.

Dass die Beschwerdekammermitglieder eine solche Pflicht nicht gern sähen, dürfte aus Arbeitsvermeidungsgründen einleuchten. Deshalb haben sie aus dem "soll" ja "kann" gemacht. Das kam dem EPA selbst aber wohl ein bisschen wacklig vor, weshalb man sich Mühe gegeben hat, es nochmals in einer neuen Regel "klarzustellen". Natürlich kann die Regel Pflichten aus einem Artikel nicht aufheben, aber da die Beschwerdekammern ja praktischerweise selbst darüber entscheiden dürfen, was ihre Pflichten sind, ist kaum damit zu rechnen, dass irgendeine Entscheidung von der Regel abweichen wird.

Aus dem soll wurde nicht nur ein Kann des Art. 114 gemacht, sondern durch die Prima facie Relevanz nach G 10/91 sogar noch eine Hürde eingebaut. Die Kann-Regel in R81(1) erscheint mir breiter als die Kann-Regel plus prima facie Kriterium nach G10/91. Könntest dies noch einmal kommentieren?

Ist die Einspruchsabteilung in deinem Fall auf das Prima facie Kriterium eingegangen?
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Aus dem soll wurde nicht nur ein Kann des Art. 114 gemacht, sondern durch die Prima facie Relevanz nach G 10/91 sogar noch eine Hürde eingebaut. Die Kann-Regel in R81(1) erscheint mir breiter als die Kann-Regel plus prima facie Kriterium nach G10/91. Könntest dies noch einmal kommentieren?

Das "Prima facie"-Kriterium ist doch nur Wortgeklingel. Es geht um Einspruchsgründe, die die Abteilung von sich aus heranzieht. Damit das passiert, muss mindestens ein Prüfer auf die Idee kommen, dass es ein Problem unter irgendeinem neuen Einspruchsgrund geben könnte. Wenn der Prüfer aber diesen Gedanken hat, ist das doch schon der Beweis für Relevanz "prima facie". Dem ersten Anschein nach glauben die Prüfer, dass irgendetwas ein Problem darstellt, also prüfen sie.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
Das "Prima facie"-Kriterium ist doch nur Wortgeklingel.
In der Tat.

Grundsätzlich müssen die Prüfer alles prüfen, was von den Parteien vorgebracht wird, das nennt man "rechtliches Gehör". Anders als z.B. im (deutschen) Zivilprozess gibt es aber zusätzlich die "Amtsermittlung" und es könnte willkürlich erscheinen, wenn da in dem einen Fall scheinbar mehr getan wird als in dem anderen. Dem wird mit diesem "Wortgeklingel" ein objektiver Anstrich gegeben. Ob das erfolgreich geschieht, mag jeder selbst beurteilen.

Jedenfalls kann es weder der Patentinhaber beanstanden, wenn irgendetwas ohne expliziten Parteivortrag berücksichtigt wird und zum Widerruf führt, noch kann es der Einsprechende beanstanden, wenn dies nicht geschieht. (Vielleicht kommt ja erst in einem Nichtigkeitsprozess heraus, dass man den Sachverhalt, der zur Nichtigkeit führt, bereits im Einspruchsverfahren problemlos hätte bemerken können; aber warum hat der Einsprechende das dann nicht vorgetragen?)

Es gibt kein Rechtsmittel, wo die Beteiligten das "Prima facie"-Kriterium mit Aussicht auf Erfolg vorbringen könnten. Vielleicht ist es aber für die amtsinterne Beurteilung derjenigen Prüfer von Bedeutung, die einmal Richter werden wollen.
 
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newpatent

*** KT-HERO ***
Das "Prima facie"-Kriterium ist doch nur Wortgeklingel. Es geht um Einspruchsgründe, die die Abteilung von sich aus heranzieht. Damit das passiert, muss mindestens ein Prüfer auf die Idee kommen, dass es ein Problem unter irgendeinem neuen Einspruchsgrund geben könnte. Wenn der Prüfer aber diesen Gedanken hat, ist das doch schon der Beweis für Relevanz "prima facie". Dem ersten Anschein nach glauben die Prüfer, dass irgendetwas ein Problem darstellt, also prüfen sie.

Bei der Einführung von Beweismitteln und Tatsachen wird aber das Prima facie Kriterium derart definiert, dass diese den Verfahrensstand ändern müssen. Demnach wäre das Prima facie Kriterium anders für neue Einspruchsgründe sowie für den Prüfungsumfang?
 

Asdevi

*** KT-HERO ***
Bei der Einführung von Beweismitteln und Tatsachen wird aber das Prima facie Kriterium derart definiert, dass diese den Verfahrensstand ändern müssen. Demnach wäre das Prima facie Kriterium anders für neue Einspruchsgründe sowie für den Prüfungsumfang?

"Prima facie" ist Latein und bedeutet "auf den ersten Blick". Damit man also einen neuen Einspruchsgrund oder auch neue Fakten einführen kann, müssen diese auf den ersten Blick relevant erscheinen. Wem müssen sie so erscheinen? Dem jeweils entscheidenden Spruchkörper.

Wenn du also als Einsprechender in der mündlichen Verhandlung einen neuen Einspruchsgrund ausgräbst, dazu irgendein inkohärentes Gelaber absonderst und die Prüfer nicht verstehen, was du überhaupt willst, werden sie den Grund zurückweisen, weil er für sie nicht "auf den ersten Blick" relevant erscheint.

Wenn allerdings ein Prüfer selbst auf die Idee kommt, dass es ein Problem geben könnte, ist das Kriterium "auf den ersten Blick" inhärent erfüllt. Der Prüfer wird sich ja kaum sagen: "Ich habe zwar den Eindruck, da gibt es ein Problem, aber wahrscheinlich denke ich mal wieder Blödsinn und eigentlich verstehe ich ja selbst nicht, womit ich ein Problem habe".
 
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