EPÜ Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbarung

Fip

*** KT-HERO ***
Mich beschäftigt gerade folgendes Problem (sofern es denn eines ist):

Der Prüfer verlangt vor Erteilung in der R.71(3) Mitteilung die Streichung verschiedener Bestandteile der ursprünglichen Anmeldung (u.a. diverse Ausführungsbeispiele und der zugehörige Zeichnungen). Es handelt sich um eine Euro-PCT/US Anmeldung, in der nach europäischem Verständnis ursprünglich viel zu viele unabhängige Ansprüche und nicht einheitliche Varianten einer Erfindung (nach europäischem Verständnis: "zahlreiche uneinheitliche Erfindungen") beansprucht waren, wobei die verschiedenen uneinheitlichen Erfindungen/Ausführungsbeispiele immer auch gemeinsame Merkmale und Merkmalskombinationen aufweisen. Zur Erteilung anstehen tut nur eine bestimmte Ausführungsform einer der zahlreichen uneinheitlichen Erfindungen.

Der Mandant sagt nun: Bitte der R.71(3) zustimmen, aber nur dann, wenn es möglich ist, in einem etwaigen Einspruchsverfahren zur Abwehr eines etwaigen A.100c)/A.123(2) Einwands auch auf vor Erteilung gestrichene Bestandteile der Ursprungsoffenbarung zurückzugreifen.

Diese "Abwehr" kann natürlich entweder argumentativ (keine Änderung des Patentanspruchs) oder durch eine den Einspruchsgrund beseitigende Einschränkung des Patentanspruchs erfolgen. In beiden Fällen ist es denkbar, dass man hierzu auf einen Teil der Ursprungsoffenbarung zurückgreifen muss (oder will), der vor Erteilung gestrichen wurde.

Ich kann in den Richtlinien oder im Kommentar nichts finden, was den Rückgriff auf einen Teil der Ursprungsoffenbarung ausschließt, auch wenn dieser Teil vor Erteilung gestrichen wurde. Irgendwie widerstrebt es mir aber, dem Mandanten hier bedenkenlos grünes Licht zu geben, auch wenn der Gesetzestext in A.100 c) bzw. A.123(2) EPÜ sich eigentlich eindeutig auf die ursprünglich eingereichte Fassung bezieht.

Gibt es hierzu eindeutige Rechtsprechung oder sonstige Fundstellen?
 

Pirromania

Schreiber
AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Es kommt m.E. nur die die ursprünglich eingereichte Anmeldung an. Allerdings gibt es wahrscheinlich ein 123(3)-Problem, wenn auf die gestrichenen Teile zurückgegriffen werden muss, da sie einen nicht mehr beanspruchten Gegenstand betreffen. Anderenfalls müssten Sie ja gar nicht gestrichen werden.
 

Groucho

*** KT-HERO ***
AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Gibt es hierzu eindeutige Rechtsprechung oder sonstige Fundstellen?


Hallo Fip, in der Rechtsprechung der BK, 9. Auflage, Punkt II.E.2.3.2 "Begriff der Zäsur" solltest du alles finden, was du brauchst.
 

Fip

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AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Danke and Groucho! Ich frage mich, warum ich das nicht selbst gefunden habe …:confused:

Was Deinen Kommentar angeht, Pirromania: Das sehe ich nicht so. Es kann ja durchaus sein, dass der Fachmann aus der Gesamtheit der ursprünglichen Unterlagen, also unter Berücksichtigung aller Ausführungsbeispiele, Zeichnungen und Beschreibungsbestandteile, ein bestimmtes Merkmalsverständnis entwickelt, dass er nicht entwickeln würde, wenn er nur einige wenige Teile der Anmeldung isoliert betrachtet.
 

Hans35

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AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

... Es kann ja durchaus sein, dass der Fachmann aus der Gesamtheit der ursprünglichen Unterlagen, also unter Berücksichtigung aller Ausführungsbeispiele, Zeichnungen und Beschreibungsbestandteile, ein bestimmtes Merkmalsverständnis entwickelt, dass er nicht entwickeln würde, wenn er nur einige wenige Teile der Anmeldung isoliert betrachtet.
Ein solches Merkmalsverständnis wäre dann zwar offenbart, es ist dann aber nicht zum Bestandteil des erteilten Patents geworden, zumindest wenn es darauf für die Bestimmung des Schutzbereichs ankommt. Das wäre dann das von Pirromania erwähnte 123(3)-Problem. Ein 123(2)-Problem wäre es hingegen, wenn stattdessen das der Patentschrift entnehmbare Merkmalsverständnis nicht (zumindest ebenfalls) den ursprünglichen Unterlagen entnehmbar ist; letzteres ist im Zweifel gefährlicher, weil es nicht mehr im Zuge des laufenden Einspruchsverfahrens behoben werden kann.

Ich würde mich, wenn es irgendwie möglich ist, gegen jegliche Streichungen von Anmeldungsteilen wehren, falls die Folgen nicht wirklich überschaubar sind, also zumindest, wenn solche "Verständnisunterschiede" im Raum stehen.
 

PatFragen

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AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Hallo Fip,


und was ziehst du jetzt für eine Lehre aus den zitierten Entscheidungen im Entscheidungsbuch :)? Ich ziehe vor allem mal wieder die Lehre, dass man auf keinen Fall nur das im Entscheidungsbuch lesen sollte, sondern immer die entsprechende Entscheidung :). Die Zusammenfassung der 81/03 hat mich ob der Aussage, dass dann (wenn man den Argumenten der Einsprechenden folgen würde) sämtliche Änderungen nicht mehr möglich werden, da es ein Problem mit äquivalenter Verletzung geben könnte, etwas ernstaunt. In dieser verkürzten Fassung liest sich das extrem seltsam (so als ob die BK mittelbare Patentverletzung und äquivalente Patentverletzung verwechseln würde :) ). Wenn man die Entscheidung dann liest, passt es wieder. Also ist die in dem Entscheidungsbuch nur sehr unglücklich aus dem Zusammenhang zitiert, was durchaus häufiger passiert. Das führt in meinen zweiseitigen Verfahren immer wieder dazu, dass die Gegenseite offensichtlich, aus dem Entscheidungsbuch zitiert und wenn man sich die Entscheidung dann durchliest, steht da oft genug genau das Entgegengesetzte, wie das was die haben wollen :). Und auf die direkte Nachfrage nach der von der Gegenseite verlorenen Verhandlung, ob sie sich denn die von ihnen zitierte Entscheidung wirklich durchgelesen hatte, kommt dann die etwas ausweichende Antwort „nicht direkt für die Verhandlung“ :).

Insgesamt könnte man beim flüchtigen Lesen des Entscheidungsbuches womöglich zu der Überzeugung kommen, dass es nichts, was der deutschen Zensurwirkung entspricht, gibt. Immerhin lassen einige der zitierten Entscheidungen laut Entscheidungsbuch die Änderungen zu. Wenn das deine Lehre ist, dann wäre ich an deiner Stelle extrem vorsichtig. Also erstens ist das absolut nicht sicher (was ja der Mandant anscheinend will). Und zweitens sollte man womöglich auch an den Grundsatz denken, dass Änderungen, die sich nicht auf die Aufnahme von Merkmalen aus abhängigen Ansprüchen beziehen, auf alle Erfordernisse des EPÜ zu überprüfen sind. Jetzt ist da dein geschilderter Sachverhalt nicht ganz klar. Hat das EPA wirklich den Einwand der Uneinheitlichkeit (Art. 82) gebracht (wie deine Erläuterung in der Klammer andeutet), was dann eigentlich zu der Konsequenz geführt haben sollte, dass das EPA Teile der Ansprüche nicht recherchiert hat. Oder hat es nur mehrere nebengeordnete Ansprüche moniert (d.h. Regel 43(2)) ? Insbesondere wenn wirklich (wie deine Erläuterung ind er Klammer andeutet) Art. 82 bemängelt wurde (aber womöglich auch wenn nicht) würde ich als Gegner aber immer argumentieren, dass die Änderungen gegen Regel 137(5), 62b verstoßen, und deshalb nicht zulässig sind. Da brauche ich keine Zäsurwirkung sondern einfach die Überprüfung der Änderungen auf alle Erfordernisse des EPÜ. Da hilft, weil es Änderungen aus der Beschreibung sind, auch nicht der Hinweis auf die Abgeschlossenheit der im EPÜ aufgezählten Einspruchsgründe.Wenn du aus dem Entscheidungsbuch jetzt die übliche Antwort "es kommt darauf an" ziehst, dann passt das eher :).
 
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Fip

*** KT-HERO ***
AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

@PatFragen: Zunächst reduziere ich die Aussagen aus dem Entscheidungsbuch nicht auf eine einzige der genannten Entscheidungen. Dann ziehe ich den Schluss, dass das Rausstreichen von Bestandteilen aus der Anmeldung am Ende recht risikoarm ist, gleichwohl nicht risikofrei, und die üblichen Schranken (z.B. A.123(3) EPÜ) bei der Wiedereinführung vormals gestrichener Merkmale beachtlich sein werden und sich hieraus Probleme ergeben können.

So in etwa sage ich das dann dem Mandant und teile ihm mit, was der "Widerstand" gegen den Prüferwunsch an Aufwand und Verfahrensverzögerung mit sich bringt. Er solle mich bitte wissen lassen, was er gerne hätte.

Kurz zu Deinen Andeutungen: Stell Dir eine PCT/US Anmeldung mit ca. 350 Seiten Beschreibung, 80 Figuren und 180 Ansprüchen, von denen 16 unabhängig sind und unterschiedlichen Kategorien angehören, vor, wobei die Schutzansprüche der einzelnen unabhängigen Ansprüche sich weitgehend überschneiden oder nur leicht zueinander verschoben sind. Im PCT und EP Verfahren gab es Uneinheitlichkeitseinwände, es gab einen Teilrecherchenbericht, in dem 6 Erfindungen (nach EP Definition) identifiziert wurden, es wurde eine weitere Recherchegebühr für eine weitere Erfindung gezahlt, die sich dann als nicht neu herausstellte, es gibt demnach nicht recherchierte Ansprüche, es gab R.43(2) Einwände, Klarheitseinwände, usw.
 

Hans35

*** KT-HERO ***
AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Stell Dir eine PCT/US Anmeldung mit ca. 350 Seiten Beschreibung, 80 Figuren und 180 Ansprüchen, von denen 16 unabhängig sind und unterschiedlichen Kategorien angehören, vor, wobei die Schutzansprüche der einzelnen unabhängigen Ansprüche sich weitgehend überschneiden ...
Wann und wodurch sind solche Anmeldungen eigentlich "modern" geworden? Wenn ich in alten Patentschriften blättere (sei es DE oder US), dann kamen damals die meisten mit 3 bis 7 Seiten aus, und ich habe nicht das Gefühl, dass da alles nur unvollständig offenbart wurde.

Hängt es vielleicht mit der immer trauriger werdenden sprachlichen Schulbildung zusammen (aus meiner Sicht wohl zumindest in DE und US)? Oder mit der Rechtsprechung, die immer höhere Anforderungen an die Offenbarung stellt, bzw. an die Auslegung bzgl. des Schutzbereichs?

Oder ist das vielleicht nur meine subjektiv verfälschte (vom Ausbilder tradierte) Wahrnehmung und ein Vorurteil? (Eine ernsthafte Statistik habe ich dazu bisher nicht gesehen.)
 

Fip

*** KT-HERO ***
AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Ich glaube nicht, dass man so weit gehen sollte, solche Anmeldungen als "modern geworden" zu bezeichnen. Es gibt eben Anmelder bzw. Anwälte - gerade in den USA - die diese aus europäischer Sicht übertriebenen "American Style" Anmeldungen favorisieren, aus welchen Gründen auch immer. Bezogen auf die Gesamtheit aller Anmeldungen bilden derartige Anmeldung aber nach wie vor nur einen kleinen Bruchteil.
 

philkopter

GOLD - Mitglied
AW: Abwehr von A.100c) / A.123(2) Einwänden unter Rückgriff auf gestrichene Offenbaru

Wann und wodurch sind solche Anmeldungen eigentlich "modern" geworden? Wenn ich in alten Patentschriften blättere (sei es DE oder US), dann kamen damals die meisten mit 3 bis 7 Seiten aus, und ich habe nicht das Gefühl, dass da alles nur unvollständig offenbart wurde.

Hängt es vielleicht mit der immer trauriger werdenden sprachlichen Schulbildung zusammen (aus meiner Sicht wohl zumindest in DE und US)? Oder mit der Rechtsprechung, die immer höhere Anforderungen an die Offenbarung stellt, bzw. an die Auslegung bzgl. des Schutzbereichs?

Oder ist das vielleicht nur meine subjektiv verfälschte (vom Ausbilder tradierte) Wahrnehmung und ein Vorurteil? (Eine ernsthafte Statistik habe ich dazu bisher nicht gesehen.)

Ich vermute Du bist Techniker, oder? Im Pharmabereich umfassen Anmeldungen häufig deutlich über 100 Seiten. Dies liegt auch daran möglichst alle Ausführungsformen explizit zu offenbaren (mit Dank an die 123(2) Rechtsprechung). Doch daneben ist es im Pharmabereich häufig so, dass eine Anmeldung, ein Patent, das vermarktete Produkt in Gänze abdeckt. Die Wichtigkeit dieses Patents ist also enorm. In der Technik geht es ja häufig "nur" um einzelne Komponenten und ein Produkt (z.B. ein iPhone) wird von 1000en Patenten abgedeckt.

Man versucht also schon am Anmeldetag alle am Ende tatsächlich in der Praxis umgesetzten Ausführungen abzudecken, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen eine Verletzungsform mit einem Anspruch wortsinngemäss treffen zu können. Ferner versucht man dadurch SdT zu schaffen, der die Erteilung von Patenten für die Konkurrenz erschwert. Es ist nämlich so, dass nach der Anmeldung eines neuen Wirkstoffs Generikahersteller "random" Auswahlerfindungen anmelden, um FTO für den Wirkstoff zu verhindern. Dies versucht man also schon in der ersten Anmeldung zu verhindern, indem möglichst viel Offenbarung generiert wird.

Alles klar? ;)

VG
 
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