Auswirkungen von G2/98 bei Prioritätsanmeldungen

Marc N. Zeichen

*** KT-HERO ***
Hi Forum,

hat jemand schon Erfahrung mit den Auswirkungen der Entscheidung G2/98 auf die Formulierung von Prioritätsanmeldungen?

Ich nehme zwar an, folgendes ist unkritisch, aber sicherheitshalber mal gefragt:

Wenn ich beispielsweise den Hauptanspruch einer ("provisorischen") Voranmeldung einteilig formuliert habe, und bei der Ausarbeitung der prioritätsgestützte Nachanmeldung feststelle, dass dieser zweiteilig formuliert werden sollte, kann sich das später zu einem Problem auswachsen?

Und wie wäre es, wenn ich im Hauptanspruch den Passus "Einrichtung zur Umformung eines Blechteils für ein Kraftfahrzeug" aus der Voranmeldung in der Nachanmeldung schreibe als "Einrichtung zur Umformung eines Blechteils beispielsweise für ein Kraftfahrzeug"?

Beides würde ich aus dem Handgelenk als völlig unkritisch für die Gültigkeit der Priorität betrachten. Aber vielleicht sieht das ja jemand doch anders.

Danke schonmal
und Grüße Marc.
 

Horst

*** KT-HERO ***
Aus dem Bauch heraus:

Erstes Problem: Völlig unkritisch. Wortlaut muss nicht identisch sein (T 81/87, gilt immer noch).

Zweites Problem: Ausklammerung der Zweckangabe, die abhängig vom Einzelfall ein funktionales Merkmal sein kann, kritisch, weil uU breiterer Schutzbreich. Insofern ist fraglich, ob sich für den Fachmann aus der ersten Offenbarung der Gegenstand auch ohne die Zweckangabe ergibt. Bleibt man rein beim "novelty test" wird der natürlich bestanden, weil das Spezielle das Allgemeine vorwegnimmt. Ergebt sich das Allgemeine jedoch nicht unmittelbar aus der ersten Anmeldung, fällt die Prio wohl weg (disclosure test).

"Novelty test" und "disclosure test" bleiben anwendbar, sind jedoch eng auszuglegen, bspw. keine sogenannten unschädlichen "unwesentlichen Merkmale" mehr.

Aber zur Prio gibt es beim EPA ja einige "Spezialansichten", siehe C-Teil 2007, der einen ähnlichen Fall hatte (Merkmale gleich, Gegenstand allgemeiner, aber Prio angeblich +). Am besten RiLi C-V 2.2 lesen, obwohl die auch sehr unspezifisch ist, und den Rechtsprechungsband, Seite 340ff. durchstöbern.
 

grond

*** KT-HERO ***
Marc N. Zeichen schrieb:
Ich nehme zwar an, folgendes ist unkritisch, aber sicherheitshalber mal gefragt:

Wenn ich beispielsweise den Hauptanspruch einer ("provisorischen") Voranmeldung einteilig formuliert habe, und bei der Ausarbeitung der prioritätsgestützte Nachanmeldung feststelle, dass dieser zweiteilig formuliert werden sollte, kann sich das später zu einem Problem auswachsen?
Nein, da eine Umstellung von der einteiligen Anspruchsform zur zweiteiligen im Prüfungsverfahren kein Verstoß gegen Art. 123(2) wäre und in beiden Fällen immer derselbe Maßstab für die Beurteilung der ursprünglichen Offenbarung gilt (nämlich das Verständnis ein- und desselben Durchschnittsfachmanns), bist Du auf der sicheren Seite.


Und wie wäre es, wenn ich im Hauptanspruch den Passus "Einrichtung zur Umformung eines Blechteils für ein Kraftfahrzeug" aus der Voranmeldung in der Nachanmeldung schreibe als "Einrichtung zur Umformung eines Blechteils beispielsweise für ein Kraftfahrzeug"?
Eignungs- und Zweckangaben nehmen an der Definition der Erfindung in dem Sinne teil, dass der beanspruchte Gegenstand geeignet sein muss, den Zweck zu erfüllen. Da alle Merkmale, die mit "insbesondere" oder "beispielsweise" eingeführt werden, optional sind, bedeutet Dein beispiel, dass Du von "Blechteil für ein Kraftfahrzeug" auf "Blechteil" umstellst, wobei "Blechteil für ein Kraftfahrzeug" immer noch optional enthalten ist. Für den optionalen Teil genießt Du also auf jeden Fall die Priorität.

Für die Frage, ob denn nun auch die "Einrichtung zur Umformung eines Blechteils" das Prioritätsrecht genießt, müssen wir den zuständigen Durchschnittsfachmann fragen, ob er durch "für ein Kraftfahrzeug" irgendwelche implizierten weiteren Merkmale sieht. Das könnten z.B. bestimmte Härtegrade des im Kraftfahrzeug grundsätzlich verwendeten Blechs sein, die besondere Anforderungen an die Einrichtung zur Umformung stellen, oder bestimmte Dimensionen, die z.B. kleine Prägestempel für Münzen und Medaillen ausschließen. Kommt der Fachmann zu dem Schluss, dass die Umformung von Blechteilen für Kraftfahrzeuge andere (zusätzliche) Anforderungen stellt als die Umformung von Blechteilen (schlösse ja auch Cola-Dosen ein...), dann würde die weiter gefasste Einrichtung nicht das Prioriätsrecht genießen. Im gegebenen Beispiel wäre das vermutlich zu verschmerzen, weil man den optionalen Teil ja immer wieder zum "verpflichtenden" Teil machen kann. Zudem ist schwer vorstellbar, dass sich in der Nachanmeldung plötzlich überhaupt kein Hinweis mehr auf die Verwendung im Automobilbau finden lassen soll... ;)
 

grond

*** KT-HERO ***
Horst schrieb:
"Novelty test" und "disclosure test" bleiben anwendbar, sind jedoch eng auszuglegen, bspw. keine sogenannten unschädlichen "unwesentlichen Merkmale" mehr.
Sind "novelty test" und "disclosure test" nicht dasselbe? Bei beiden muss doch das Verständnis des Durchschnittsfachmanns greifen, wobei z.B. äquivalente Mittel zu ignorieren sind, was bei Prioritätsinanspruchnahmen am ehesten zu Problemen führen kann, da man leicht geneigt ist, ein Merkmal durch ein bevorzugtes Äquivalent zu ersetzen. Oder ist der letzte Punkt falsch?
 

Marc N. Zeichen

*** KT-HERO ***
Vielen Dank für die äußerst hilfreichen und erschöpfenden Antworten -- bin erstmal beruhigt, dass der Tenor in die Richtung geht, die ich auch vermutet hatte.

Ein schönes Wochenende,
Grüße Marc.
 

Horst

*** KT-HERO ***
Sind "novelty test" und "disclosure test" nicht dasselbe?
Ich glaube nicht (?), siehe obiges zweites Beispiel. Einfaches weiteres Beispiel: Prioanmeldung hat das Merkmal "Nagel", Nachanmeldung hat das Merkmal "Befestigungslement".

"Novelty test" wird bestanden (Nagel nimmt Befestigungselement vorweg), "disclosure test" jedoch nicht (andere Befestigungselemente als Nägel waren nicht offenbart).

Ist aber Auslegungssache. Nimmt man als Prüfmerkmal "Befestigungselemente außer Nägel" wird schon der "novelty test" nicht bestanden. Am Ende sollte es zu gleichem Ergebnis führen.
 
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